Meine, wie Frau meint, Schnapsidee verwirklicht sich im Juli 2017. Mann will nicht fliegen, so sitzen die Interrail-Reisenden im Zug bis Bari und übernachten dann in der Schiffskabine der Fähre, bis der albanische Hafen von Durrës in Sicht kommt.
Tirana empfängt uns entspannt, jedes zweite Gebäude scheint ein »restorant« oder eine »bar« zu sein, fast ausschliesslich von Männern bevölkert. Tobi, unser Chef während den sechs Tagen, ist froh, dass es kühler geworden, lediglich noch 34 Grad warm ist.
Am 4. Juli radeln wir aus Tirana heraus. Sehr schnell wird es steinig, staubig, steil und sehr schwitzig. Schnaps ist es nicht, was in dieser Woche in Massen unsere Poren verlässt. Der oft ruppig ansteigende Weg fordert.
Mann wähnt sich oft weit entfernt jeglicher Zivilisation und ist erstaunt, immer wieder auf kleine Dörfer zu treffen. In etlichen Weilern stehen neu gebaute Minarette, finanziert beispielsweise von Bahrain.
Gemütlich spazierende Schildkröten wollen sicher nicht überfahren werden. Hühner fliehen panisch vor uns, der Film »chicken run« lässt grüssen.
Autos sehen wir weniger als Esel, welche, schicksalsergeben und voll beladen, langsam wippend unterwegs sind. Traktoren auf Feldern sind kaum ersichtlich, es wird Hand angelegt. Ziegen- und Schafherden breiten sich auf scheinbar endlosen Weideflächen aus. Immer wieder finden sich frei angelegte Friedhöfe, jedes Grabmal ist mit farbigen Plastikblumen dekoriert.
In einem Dorf verfolgen wir den Schlauchwechsel am Brunnen. Wasseranschluss haben die Häuser in diesem Dorf nicht. Jede Familie darf eine Stunde lang Wasser vom Brunnen abzapfen und mit einem Schlauch ihrem Haus zuführen. Etliche Ortschaften haben lediglich stundenweise Zugang zu fliessendem Wasser und zu Strom.
Hügel und gebirgiges Gelände sollen, so erfahren wir im Wikipeda, 70 Prozent der Geographie von Albanien ausmachen. Unsere schweren Beine und der enorme Bedarf an Trinkwasser, um die leeren Schweisstanks wieder zu füllen, geben dem Internet Recht. Wir überwinden auf unserer Bike-Tour in Zentralalbanien auf teilweise sehr natürlichen Wegen Pässe und Übergänge. Vereinzelt nutzen wir auch die Reste von Steinstrassen, welche die italienische Besatzungsmacht vor ca. 100 Jahren gebaut hat. Die Abfahrten erstrecken sich teilweise über 20 Kilometer, sind höchst abenteuerlich und fordern Mut und die kaum vorhandene Technik des Radlerpaars heraus. Rollstrecken auf Asphaltstrassen fühlen sich erholsam an.
Die erste Tagesetappe führt nach Kruja, ein sympathischer Ort, scheinbar in den Bergrücken gepresst. Dort residierte und kämpfte vor ca. 600 Jahren Skanderberg Kastrioti erfolgreich gegen die Osmanen. Er wird heute noch als der Nationalheld der Skipetaren verehrt. Viele Touristen besuchen das hiesige Skanderg-Museum. Das Hotel Panorama wird seinem Namen sehr gerecht, herrlich.
Am zweiten Tag pedalen wir auf einer einsamen Asphaltstrasse 19 Kilometer lang den Qafë Shtama hoch, »Qafë« bedeutet Pass. Unterwegs verschenken uns Mitarbeitende der Wasserabfüllanlage Wasserflaschen. Auf der Passhöhe essen wir im Schatten von Föhren und geniessen den kühlenden Wind. Die Fahrräder müssen auf der sehr holprigen Abfahrt viele Schläge aushalten.
In Shulbatër übernachten wir bei einer Familie in einem dreihundert Jahre alten Haus, das ursprünglich für eine vierzigköpfige Grossfamilie gebaut wurde. Wir essen im Schneidersitz auf dem Boden. Die Maissuppe mit Knoblauchstücken, die von Hand gefertigten Pommes Frites, der griechische Salat schmecken köstlich.
Der Hausherr isst mit uns, leistet uns Gesellschaft, das ist seine Pflicht. Die Frauen essen nicht mit uns. Sie kochen für uns, bewirten uns. In diesem Teil von Albanien herrschen alt hergebrachte Verhaltensregeln, auch zwischen den Geschlechtern.
Tobi, Inhaber von Ride Albania Mountain Biking, versucht mit Hilfe dieser Radtouren einzelne Familien, welche uns Gastrecht gewähren, finanziell zu unterstützen. Gerne würde er diesen sanften Tourismus sachte ausbauen. Seit vier Jahren lebt er in Tirana, vor einem Jahr startete er mit seiner Firma Mountainbike-Touren in Albanien zu organisieren. Good luck, lieber Tobi. Er und Orgest, ein junger Einheimischer, begleiten uns, ermöglichen uns das Eintauchen in diese uns fremde Welt, welche uns offen und mit herzlicher Gastfreundschaft empfängt.
Wir beobachten, dass viele Männergruppen vom frühen Morgen an scheinbar stundenlang in den Restaurants sitzen. Abends findet in albanischen Gemeinden der »xhiro« statt, das Flanieren von Familien und Gruppen von Frauen und Männern, welche sich aufmerksam und aus Distanz mustern.
Am dritten Tourtag geht es den Qafë Murrë hoch, ein platter Reifen verhilft zu einer Pause im Schatten. Wir rollen vorbei an massiven Mini-Bunkern, welche Hoxha im ganzen Land errichten liess. Über 600’000 solcher Betonpilze wurden in ganz Albanien plaziert. Sie wirken makaber, traurig, nutzlos auf uns. Unser westliches Hirn stellt sich die Frage: »Was hätte man mit diesem Geld Sinnvolles machen können?«.
In Peshkopi, einer Kleinstadt nahe der mazedonischen Grenze, übernachten wir zweimal im Hotel Veri. Der lokale Obstsaft schmeckt hervorragend. Beim Berber lässt sich Mann am Ruhetag verwöhnen. Zu einer ordentlichen Rasur gehört eine erfrischende Gesichtsmaske, welche Wohltat. Wir radeln am Nachmittag zur Verwandschaft von Orgest, welche uns enorm gastfreundlich empfängt. Das anschliessende Bad im Fluss Drin, welcher sich frei ausbreiten kann, erfrischt wunderbar. Bei anbrechender Dunkelheit pedalen wir zurück nach Peshkopi.
Am folgenden Tag rollen wir auf dem Asphalt ein, essen in einem Restaurant am Drin, bevor wir in ein sehr einsames Bergtal ein- und hochsteigen. Vogelzwitschern, wunderbare Schmetterlinge begleiten uns. Grundstücke sind durch kunstvoll gefertigte Weidezäune abgegrenzt. Heuhaufen gleichen Kunstwerken.
Zwischendurch stossen wir unsere Bikes über steile Schotterhalden, kämpfen uns auf schmalen Pfaden in Eichen- und Buchenwäldern hoch. Versteckt befindet sich ein wunderschön dekorierter Schrein des Bektaschi-Ordens, eine muslimische Glaubensrichtung, welche im osmanischen Reich verboten wurde und heute ihren Hauptsitz in Albanien hat.
Die lange Abfahrt nach Bulqiza lässt die Bremsen glühen, kleine Bäche auf der Naturstrasse kühlen diese ab.
Die Schlussetappe ist gemütlich, die Minenstadt Bulqiza besitzt eine ausgedehnte Fussgängerzone. Unseren Zielort Klos erreichen wir nach einer wunderbaren Abfahrt. Ähnlich wie im Schweizer Jura finden sich viele Gedenktafeln für Verstorbene an den Strassenplanken. Leider endet unser Bike-Abenteuer in Klos. Abends essen wir in Tirana fein mit Tobi und Orgest, bevor wir uns drücken und einander ein herzliches Mirupfashim wünschen. Intensiv, unglaublich reich an Eindrücken waren diese Tage, ein kostbares Geschenk und wahrlich keine Schnapsidee.
Siehe auch: Radfahren in Albanien
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