newsletter AlbanienSchweizer Zeitschrift
für die Zusammenarbeit mit Albanien |
|||
Albanien
|
Auf dem Weg ins Paradies Eindrücke einer Reise durch Albanien, von Norden nach Süden, von Tirana nach Gjirokastër Knapp zwei Flugstunden trennen zwei Welten: die eine, eine beinahe klinisch saubere, die andere, eine mit Staub und Abfall überwucherte. Geräuschvoll fiel das gewohnte Bild aus dem Rahmen. Wir sind in Tirana, in der Millionenstadt Albaniens, mit Verkehr wie im Westen und Demokratie wie im Osten. Maultiere, Esel und Pferde ziehen Wagen, tragen Menschen; Mercedes rasen durch ödland. Der Staub der Dürre. Schutt und Asche, Autoskelette, Häuser der grossen Autonamen, kleine und grosse Geschäfte, Imbissbuden, Nescafé-Cafés, Café-Turke-Cafés, Lethargie säumen die grosse Hauptstrasse, die zum grossen Platz des Helden Skanderbegs führt. Wohnen im sechsten Stock bei Shqipe und Arjan, die Blicke hinauf zum Dajti, 1¹500 Meter hoch, und hinab in die Slums, die für die Bewohner keine sind, zum Schulhaus fast ohne Fenster, zu den Fussball spielenden Knaben, zu dem Schmutz und Staub, der über den Wegen und Plätzen liegt. Keine Arbeit für die Jungen, kein Geld für die Infrastruktur, keine Perspektiven, kein Nichts. Arbeit in Hülle und Fülle. Aber kein Diktator mehr. Der Sonntagmorgen im grauen Kleid, der Nachtglanz der tausend Lichter versank in den Löchern der Strassen. Sternenstaub legte sich darüber. Ich denke für Momente: Das Land ist ein Schutthaufen; doch das kümmert die Leute wenig, sie sehnen sich nur nach dem Leben wie ennet der Adria. Mais wächst schmalbrüstig auf den Feldern, auch ein paar hilflose Tomatenpflanzen in kaputten Gewächshäusern. Kein Tabak, keine Sonnenblumen. Ein paar Feigenbäume, Reben, lila Malvenblüten sind spärliche Zeichen der Vegetation. Es bräuchte Geld und Regen, klagen die Leute. Die pilzköpfigen Bünkerchen, die einst den imaginären Feind hätten abhalten sollen, liegen wie ausgerissene Kartoffelstauden zertrümmert auf dem unfruchtbaren Boden. Sechs Stunden dauert die Fahrt mit dem Bus von Tirana nach Gjirokastër. Diese Stadt im Süden, nahe der griechischen Grenze gelegen, ist eine steinerne Stadt mit Wegen aus abgewetzten Steinen, Häusern mit aschgrauen Steindächern, mit der halbverfallenen Zitadelle aus Stein. Die Häuser schmiegen sich an die Hügel, an die Bergflanken, an die Burgabhänge, vertun sich breit in der Ebene. Eine Handvoll Leute lebte im Schutz der im 13. Jh. erstellten Zitadelle. Die Osmanen belagerten Gjirokastër 1417 auf ihrem Eroberungszug gegen den Westen, Albanien wurde dem Paschareich einverleibt. Im 17. Jahrhundert bevölkerten die Leute die Abhänge, im 18. und 19. Jahrhundert legten mehr Leute mehr Häuser an. Um 1810 regierte Ali Pascha von Tepelena. Er sah sich als Held wie einst Skanderbeg, war Rebell gegen die türkische Regierung im fernen Istanbul; sein Kopf, so sagt die Legende, wurde per Kurier nach der verhassten Stadt gebracht und dort im Schandkasten ausgestellt. Zeugen der frühen Zeit sind pittoreske Häuser, der neue und der alte Basar entlang der Gassen, die sich steil ansteigend und sternförmig zu einem Plätzchen vereinen. Heute versucht ein Polizist an diesem Plätzchen vergebens, den Verkehr mit Pfeifen, Gestikulieren, Schreien zu regeln. Das Chaos ist unbezähmbar. Die Fussgänger drängen sich zwischen Blech und Abgasen. Die Kaffeebars sind keine Oasen. Die Mercedes-Männer verschaffen sich Gehör mit Tempo, Dieselgestank und Hupe. Die Macho-Männer machen aggressiv. Die Frauen sind sanft, herzlich, gastfreundlich, liebenswürdig, zuvorkommend. Wie kommen die Frauen mit diesen Männermännern zurecht? Der Muezzin ruft die Männer in die Moschee. Diese Männer, die vor den Häusern stehen, an Ecken und Plätzchen, schauen ins Leere, kratzen sich hie und da am Geschlecht, gestikulieren, schreien und - wer weiss - weinen auch manchmal. Wer kennt die Seele eines Volkes an den Rändern einer Welt an der Adria? Für sie sind Mercedes Synonym der Gleichwertigkeit mit den Schönen, den Reichen, den Bevorzugten der Gesellschaft. Erst aber müssen sie fünfhundert Jahre osmanische Unterdrückung, vierzig Jahre Isolation in der Diktatur Enver Hoxhas überwinden. Doch der Weg in die Demokratie gleicht den steinigen Strassen in Gjirokastër. Es wird viele Jahre dauern bis das Volk der Shqipetaren, abstammend von den Illyriern aus dem 10. Jahrhundert vor Christus, das erträumte Paradies bewohnen wird. Der Enver-Hoxha-Albtraum wurde mit seinem Tod begraben. An seinem Begräbnis, so sagen Augenzeugen, füllten die Menschen Albaniens ausgetrocknete Meere mit Tränen. Viele wünschen sich heute seine Diktatur, in der per Dekret Religion und Blutrache verboten, Männer und Frauen gleichberechtigt waren, zurück. Es gab Arbeit und Brot für alle. Heute sollen 16 Prozent der Albaner arbeitslos sein. Arbeit läge auf der Strasse und in fast jedem Haus des Ortes. Der Bürgermeister von Gjirokastër, Yilli Asllani (er wurde Ende September abgewählt, an seine Stelle trat der Sozialist Murat Kaci, Arzt), indes meint fatalistisch, sie bekämen kein Geld, um etwa die Schäden an den kaputten Häusern zu reparieren. Es sind vor allem Schäden aus dem Bürgerkrieg, verursacht durch die Bankenpleite von Anfang 1997, die viele Sparer um ihr Vermögen brachte, auch um Haus und Leben. Dafür bereichert mit Waffen aus den örtlichen Depots. Chaos und Anarchie herrschten damals, die Wunden sind noch nicht verheilt. Sali Berisha, der Präsident Albaniens, der das Finanzdebakel mitverursachte, war im März 1997 zurückgetreten. Heute, in den Vorwahltagen des Septembers 2000 reist er schamlos für Stimmenfang seiner Demokratischen Partei im ganzen Land herum. Die Abfallberge längs der Strassen zur Zitadelle werden kurz vor Beginn des Folklorefestivals am 20. September mit Lastwagen - sie tragen die Schriftzüge der UNHCR - beiseite geräumt. Tage zuvor schon zaubern Tausende von Willkommenslämpchen orientalische Stimmung in den alten Basar. überall wird nun fiebrig gehämmert, gemeisselt, ausgebessert, geputzt und Denkmäler aufgemöbelt. Auf der Zitadelle mühen sich blutjunge Soldaten mit dem Erstellen des blechernen Glorienscheins für das Fest der albanischen Folklore. Am anderen Ende der Zitadelle stehen Helden aus Stein auf steinernem Boden des Schlosses. An den Wänden des Schlossmuseums hängen von lokalen Künstlern in öl gemalte Helden der Kriegszeiten. Hinter Glas stehen Soldaten in traditionellen Kostümen - Puppen wie tote Soldaten. Held ist der Mann mit dem Gewehr, der Freiheitskämpfer, der Geköpfte. Das Museumsgut besteht vorwiegend aus Kriegsmaterial der beiden Weltkriege. Die Museumsdirektorin bedauert, dass alle kostbaren Kunstobjekte und Zeugen der Zeit gestohlen worden seien. übrig blieben Kanonen, ein Kampfflugzeug, das draussen im Rosengarten vor sich hin rostet, Waffen, die drinnen in Vitrinen liegen, Gabeln und Stechgeräte aus Holz, aber auch schweres Geschoss. Ein nachgebauter Lagerplatz mit Stacheldrahtverhauen, aus denen Feuer loderte, zeugt von der Eroberungslust Mussolinis. Die albanischen Soldaten überlisteten die Eindringlinge mit Leitern aus Zweigen und Büschen und Bäumen, deckten die Feuer mit Schaffellen zu und überfielen die lauernden Italiener. In Tirana wurden im April 1939 Mussolini und der Marionettenkönig Vittorio Emmanuele III. mit militärischen Ehren und faschistischem Getue scheinbar herzlich empfangen. Abends schlendere ich manchmal durch die in der Ebene sich ausdehnende Neustadt. Die Hauptstrasse, Gjirokastërs »Fifth Avenue«, ist von 19 bis 21 Uhr ein Fussgängerdorado. über mir leuchten rosa die Berge und zaubern das Bild in meinen mir selbst erstellten gegenwärtigen Rahmen der Stadt. Ich spüre wie die Stadt im Süden Albaniens beinahe schneller wächst als die Menschen zu denken und atmen vermögen. Und wenn ich die steilen steinigen Wege zur Altstadt hinaufgehe, sehe ich darin ein gutes Omen: den Weg nach oben. Heidi Schaerer
- Probeabonnements
|
© newsletter Albanien: Wiedergabe von Text und Bildern in irgendeiner Form nur mit Genehmigung der Redaktion |