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Newborn auf dem Balkan
Ende und Anfang der Geschichte Kosovos / Von Isuf Sherifi

In einer Ecke des Balkans, übermüdet, liegt Kosovo (das einstige Dardania). Ein Land, das häufig eine blutige Kampfarena war. Ein Land, in dem die Albaner als Mehrheitsbevölkerung lebten und es dennoch nie selbst verwalteten. Die «Freiheit» von Kosovo war immer importiert und immer behauptet. Jede Stimme, die sich dagegen erhob, wurde verfolgt und zum Schweigen gebracht.
Fünfhundert Jahre Herrschaft des Osmanischen Reichs sind eine lange schwarze Geschichte. Es galt, mit allen Mitteln die Identität zu bewahren. Die Albaner leisteten hundertfach bewaffnet Widerstand, sie endeten in Blut und Asche. Aus diesen Kriegen erstand eine Legende: Skenderbeg (Gjergj Kastrioti 1405–1468). 25 Jahre lang war er die Hoffnung der Albaner, des Vatikans, für Europa und das Christentum. Die Osmanen hatten unter seiner Herrschaft in Albanien nichts zu suchen. Skenderbeg war unschlagbar.
Neu Golgotha
Am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts «kochte» es überall auf dem Balkan. Das Osmanische Reich zählte seine letzten Atemzüge. Auf dem Balkan wurden Grenzen neu gezogen – mit Blut und Leid. Die Albaner waren die Verlierer. Sie wurden in fünf Staaten zerstreut, gespalten, isoliert. Obwohl Albanien 1912 seine Unabhängigkeit erklärte, ist mehr als die Hälfte des Territoriums unter der Besatzung anderer Staaten geblieben. So wurde es auf der Friedenskonferenz in London 1913 und endgültig auf der Friedenskonferenz von Versailles 1919 beschlossen. Danach ging für die Albaner der Teufel los. Falls diese Geschichten jemals ans Licht kommen, werden es lange schwarze Bücher voller Intrigen, Trauer, Tod und Dunkelheit.
Seither sind über eine Million Albaner auf der Flucht, Hunderte und Tausende ermordet, lebendig verbrannt… In einem Gedicht eines Dichters aus Kosovo, der ein politischer Gefangener war, heisst es ungefähr so: «Oh, du Fremder / wenn dich irgendwann dein Weg / nach Kosovo führt/ und du in deine Hände / eine Handvoll Erde nimmst / erstaune nicht/ wenn du gleichzeitig auch Menschenknochen berührst.»
Die letzten 25 Jahre, besonders die Milosevic-Ära, kann man mit wenigen Worten erklären: Haft. Exil. Exodus. Trennung. Mord. Biblische Flucht. Massengräber. All das musste die weisse Filzkappe erleben und ertragen. Aber nicht alle haben es überlebt. Etwa 12 000 Menschen haben ihr Leben verloren. Es wurde ihnen genommen im Namen des Kriegs, den Milosevic 1989 erklärt hatte.
Jetzt, wo in Kosovo eine neue Epoche beginnt, mögen sich Historiker mit Gründen und Hintergründen des Vergangenen befassen. Jede Epoche braucht neue Ziele. Aufbau, Menschenrechte, Ausbildung, Wohlstand, Zukunft, Freude, Frieden: Daran sollte sich Kosovo jetzt orientieren.
Der grosse Sonntag
Der 17. Februar 2008 war der grösste Tag für Kosovo. Das berichten fast alle albanischen Medien. Das schreiben sogar die Medien der Minderheiten in Kosovo (Roma, Bosniaker oder die mazedonischstämmigen Gorani). Alle freuen sich über diesen Tag.
Trotzdem ist und war es nicht überall so. Besonders an den Grenzen des neuen Staates, wo die meisten Serben leben. Dort wird die Unabhängigkeit nicht als Realität anerkannt. Die Menschen dort richten die Augen nach Belgrad. Die Politiker in Pristina, in Belgrad und Europa haben noch viel zu tun. In Pristina sollte man den Plan von Ahtisaari umsetzen und eine neue Verfassung entwerfen. Belgrad sollte zum realen Leben zurückkehren und sich mit sich selbst beschäftigen.
Die kritischsten Stimmen kommen aus Serbien und auch aus Moskau. Dort spielt man ein Doppelspiel, weil die Russen die Probleme im eigenen Haus mit den Tschetschenen und auch anderen Volksgruppen nicht gelöst haben. Einige Stimmen, die völkerrechtliche Argumente vorbringen, sollten sich vermehrt über das menschliche Wesen in Kosovo Gedanken machen statt über eine «Rechtscharta» – die man Zensur nennen müsste –, die veraltet ist.
Einige Staaten haben Kosovo bereits als unabhängig anerkannt. Am Mittwoch hat sich die Schweiz angeschlossen, am Donnerstag Österreich. Weitere werden folgen. Die Schweiz hat den ersten Schritt schon früher gemacht und war «Champion» im Vergleich mit anderen Ländern. Die Schweiz hat sich wirklich sehr für die Lage in Kosovo engagiert, ihre Aussenpolitik war ernsthaft und zukunftsorientiert. Die Kritiker aus der Schweiz werden das mit der Zeit noch merken.
Das Ende, die Geburt
Der Ahtisaariplan ist wie eine Gesetzgebung für Kosovo konzipiert. Dem Plan haben fast alle westlichen Länder zugestimmt, er ist der Schlüssel für die Stabilisierung der Region. Haxhi Merxha, ein beliebter kosovarischer Romapolitiker, sagte einmal: «In meinem Leben habe ich viele Regierungen erlebt, die gekommen und gegangen sind. Aber was die Roma in Kosovo jetzt als kleine Gruppe für Rechte geniessen, kann ich nirgendwo auf der Welt erleben.»
Kosovo, ein neuer Staat, der eben erst geboren ist, hat den Blick in Richtung anderer Staaten gewendet und wartet auf ausgestreckte Hände. Er wartet auf den Eintritt in die grosse internationale Staatenfamilie. So könnte die Erzählung für Kosovo beginnen. Es ist eine von hundert möglichen Varianten eines Anfangs. Und es ist auch eine der Möglichkeiten, wie die schwarze Erzählung beendet werden könnte, um eine ganz neue zu beginnen: die des neugeborenen Staates.
Früher oder später sollte dieser Staat allen Freude machen. Allen, die verstehen, dass Demokratie und Freiheit Gedanken sind, welche nicht grammweise dosiert verabreicht werden können. Ich wünsche aus der Tiefe meines Herzens, dass der neugeborene Staat Demokratie und Freiheit zu säen und zu bewahren weiss für alle seine Bürger.
In der Diaspora
Die Bürger aus Kosovo, welche in der Schweiz leben, haben den 17. Februar auch gefeiert. Der albanische Pfarrer Marjan Marku hat zusammen mit dem Leiter des albanischen Institutes in St. Gallen, Albert Ramaj, in Wil einen Gottesdienst gefeiert. Auch Bundesrätin Micheline Calmy-Rey und die St. Galler Regierungspräsidentin Kathrin Hilber waren dabei. Albaner beider Religionen (Christen und Moslems) haben an der Messe teilgenommen und sich bei beiden Frauen für die Unterstützung in der Kosovofrage und für die Integration hier bedankt. Die beiden Frauen haben 17 Rosen als Geschenk bekommen. Sie haben mit Würde gefeiert und niemandem ein schlechtes Gefühl gegeben. Natürlich sollte auch die Freude im Rahmen der normalen «Feierparameter» ausgedrückt sein. Aber jeder hier sollte auch verstehen, dass nach der hundertjährigen Opferzeit die Freude gross ist.
Der neue Staat Kosovo hat für die albanische Diaspora eine grosse Bedeutung, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Sie haben jetzt einen sicheren eigenen Staat. Früher sahen sie ihre Ansprechstellen als Fremde, weil diese Staaten die Albaner immer als Menschen zweiter, dritter oder letzter Klasse betrachteten. Auch für die Integration der Albaner, der Bürger Kosovos in den europäischen Staaten und vor allem in der Schweiz wird mehr erwartet, wenn die Koordinierung der Beziehungen zwischen den Staaten geregelt ist. Davon können beide Seiten profitieren.
Newborn
Die winterliche Kälte am Sonntag, 17. Februar 2008, die in Pristina und überall in Kosovo herrschte, symbolisierte den seelischen und physischen Zustand seit Jahrhunderten. Die Wärme am Dienstag darauf symbolisierte den Untergang eines sibirischen Jahrhunderts, das über Kosovo mit Kälte und Dunkelheit herrschte. Das tonnenschwere Monument (Newborn) der Unabhängigkeit in der Hauptstadt Pristina stellt das dar. Ein alter Mann, der das Monument sah, fragte mit den Augen voller Tränen einen Jungen, was es bedeute. Und der Junge antwortete: «Newborn. It's new born, mein Onkel!»
Quelle