Was russische Spione in Albanien suchen könnten?

Festnahme von Russen, die versuchten, in eine Waffenfabrik bei Gramsh einzudringen.

Gestern Abend wurden albanische Soldaten mit einem »nervenlähmendem Spray« attackiert, als sie einen Mann festhielten, der auf das Gelände einer Waffenfabrik bei Gramsh eingedrungen war und dort fotografiert hatte. Der junge Mann ist Russe. Ausserhalb des Geländes warteten zwei Begleiter: eine weitere Russin und ein Ukrainer. Ihr Fahrzeug hatte ukrainische Nummernschilder. Alle drei konnten festgenommen werden. Die verletzten Wachsoldaten wurden ins Unfallkrankenhaus von Tirana gebracht und erholten sich zum Glück rasch wieder.

Albanische Behörden, Politiker und Medien waren sich schnell einig: Hier handelt es sich um russische Spione. Wer sonst soll in eine militärische Anlage eindringen – gerade in diesen Zeiten?

Die Geschichte scheint aber etwas komplizierter zu sein.

Hobby: alte Militäranlagen erkunden

Die verfallenen militärischen Anlagen in Abanien haben auf gewisse Menschen grosse Anziehungskraft: Sie wollen das Unbekannte, Verbotene, Geheime entdecken. Auf YouTube finden sich einige Videos von sogenannten »Urban Explorern«, die neben verlassenen Bunker auch die unterirdische Waffenfabrik bei Poliçan, alte Flugzeuge auf dem Militärflugplatz Kuçova, halbversunkene Schiffe in Shëngjin oder den U-Boot-Bunker von Porto Palermo erkundeten (mehr dazu in unserem Forum). Heute Sonntag wurden in Poliçan erneut vier Tschechen festgenommen – zwei fotografierten, zwei erkundeten die unterirdische Fabrik.

Es gibt also durchaus einen kleinen Kreis von »Touristen«, die sich weniger für die Strände Albaniens als für alte Industrie- und Militäranlagen interessieren. Dieses Hobby ist zwar nicht immer legal, da ab und zu mal ein Zaun überstiegen wird oder eine verschlossene Tür geöffnet wird. Gewalt wie in Gramsh wird aber nie angewendet.

Auch die beiden ausserhalb der Waffenfabrik Festgenommenen erkunden nachweislich schon seit vielen Jahren verfallene Anlagen – nicht nur militärische – und fotografieren Verfallenes, alte Technik, alte Fahrzeuge und Militäranlagen. Ihre Instagramprofile @lanasator und @cyanidium zeugen von diesen Tätigkeiten. Der junge Ukrainer war letztes Jahr schon in Albanien und ist unter anderem in Waffenfabriken und in den U-Boot-Bunker eingedrungen.

Auch aus ihrer aktuellen Reise haben sie kein Geheimnis gemacht: Die letzten Bilder wurden nur wenige Stunden vor der Festnahme hochgeladen.

Auf Twitter wird heftig diskutiert, ob die drei jetzt üble Spione oder harmlose Touristen mit einer etwas speziellen und durchaus auch gefährlichen Leidenschaft seien. Aktuell weiss das niemand – wir können nur schauen, wie sich die Geschichte weiterentwickelt, und Vermutungen anstellen aufgrund der bekannten Fakten. Möglich wäre, das die Wahrheit auch irgendwo dazwischen liegt, wie die Umstände zeigen:

Spionieren in Albanien?

Die Zeiten, als das albanische Militär nicht viel mehr als eine Lachnummer waren, sind vorbei. Albanien ist heute NATO-Mitglied, die Armee wurde aufgerüstet. Das Land hat zwar nicht besonders viele Soldaten (ca. 8000), aber diese sind – zumindest teilweise – durchaus professionell. Die Ausrüstung wird modernisiert – so hat Albanien schon vor ein paar Jahren Bajraktar-Drohnen in der Türkei bestellt. Und einzelne Anlagen werden ausgebaut: Der Flugplatz Kuçova wird eine wichtige NATO-Luftwaffenbasis, und nördlich von Durrës wird vielleicht ein NATO-Hafen gebaut.

In Kuçova soll gemäss albanischen Medien schon letztes Jahr ein Russe beim Fotografieren erwischt worden sein.

Es ist also einiges in Bewegung – das könnte natürlich auch russische Spione anlocken. So sind aktuell vier grosse russische Militärschiffe in der Adria unterwegs. Am Spionieren? Oder einfach am Schauen, wie die NATO so reagiert?

Alte Waffenfabrik in Gramsh?

Die Fabrik bei Gramsh könnte durchaus auch interessant sein für die Russen. In der »Uzina Mekanike Gramsh« wurden früher Sturmgewehre vom Typ »AK-47« hergestellt. Die Produktion ist schon fast 30 Jahre eingestellt. Später wurden in der Fabrik Waffen demontiert.

Luftbilder deuten zwar nicht darauf hin, dass heute noch viel Aktivität herrscht vor Ort: Drei, vier Fahrzeuge und ein, zwei kleinere renovierte Gebäude. Der albanische Verteidigungsminister Niko Peleshi betonte aber, dass die Fabrik noch immer als Reserve diene, um in Zukunft dort bei Bedarf wieder Waffen herzustellen. Und »Top Channel« glaubt zu wissen, dass in dieser Fabrik seit mehreren Monaten an der Herstellung einer Patrone mit einem Kaliber von 5,56 mm getüfftelt werde.

Harmlose Touristen oder Spione?

Aufgrund der Attacke auf die beiden wachhabenden Soldaten und den aktuellen Aktivitäten in der Fabrik bei Gramsh kann eigentich nur schwer von freundschaftlichen Absichten ausgegangen werden. Aber die Schlussfolgerung, dass es sich hier um drei Spione handelt, ist vielleicht etwas vorschnell.

Die Russin und der Ukrainer sind eindeutig Urban Explorers. Sie machen auch kein Geheimnis um ihre Aktivitäten: Sie fahren mit dem auffälligsten Auto mit auffälligem ukrainischen Nummerschild in die albanische Provinz. Sie dokumentieren all ihre Aktivitäten öffenltich auf Instagram. Die Russin scheint sich auch vom Regime Putin distanziert zu haben und nach Georgien ausgereist zu sein. Das passt zur Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Mitreisenden. Natürlich könnte einiges vorgetäuscht sein, natürlich könnte sie auch »tagsüber« einem Hobby nachgehen und »nachts« spionieren. Aber im Allgemeinen arbeiten Spione doch etwas verdeckter …

Andererseits passt einiges auch nicht zum Vorgehen von Urban Explorers. Stundenlang mit einem auffälligen Auto vor einer Fabrik rumzustehen und die Aufmerksamkeit der Wachen und von Anwohnern zu erregen, gilt es in der Regel zu vermeiden. Auch wird um Gelände, die noch aktiv genutzt werden, in der Regel eher ein Bogen gemacht. Und in keinem Fall wehrt man sich gegen eine Festnahme!

Wie lassen sich diese widersprüchlichen Informationen einordnen?

Vielleicht ist es falsch, alle Beteiligten in einen Topf zu werfen. Zwei warteten ausserhalb des Fabrikgeländes und flüchteten auch nicht, als ihr Mitreisender aufflog – was bei dem Auto und der Lage der Waffenfabrik auch nichts gebracht hätte. Einer schien mehr Interesse an der Fabrik gehabt zu haben und ist auf das Gelände eingedrungen. Für die beiden bekannten erfahrenen Urban Explorers war das Erkunden der Fabrik wohl einfach nicht interessant genug oder zu gefährlich.

Es wäre also denkbar, dass nur einer der drei ein Spion ist, der Interesse an dieser Anlage hatte. Die anderen beiden sind vielleicht eher harmlos und wussten vielleicht überhaupt nichts von den Plänen ihres Begleiters. Möglich wäre auch, dass sie nicht ganz freiwillig an diesem Ausflug beteiligt waren (zumindest die Russin hat ja sicherlich auch noch Familie in Putins Reich). Zuletzt stellt sich sogar die Frage, weshalb sie so wenig Vorsicht haben walten lassen vor dem Eindringen in die Waffenfabrik: War das Auffliegen des ganzen Unternehmens sogar von einem Teil der Truppe gewünscht?

Lars Haefner

Update 22. August 2022, 22 Uhr

Der albanische TV-Sender Top Channel berichtete heute Abend, dass sie neue Informationen erlangt hätten: Der Russe habe gestanden, im Auftrag eines russischen Geheimdiensts in Albanien Aufnahmen gemacht zu haben.

Der Chemiestudent M.Z. (@osmium_tetroxide auf Instagram), der die Wachen attackiert hat, sei von Unbekannten via Telegram kontaktiert worden. Er habe unter anderem Drohnenaufnahmen beim Wasserreservoir Bovilla und vom Hafen Durrës gemacht.

Es gibt aber noch viele offene Fragen: Was wussten die anderen beiden? Hat er freiwillig gehandelt oder wurde er genötigt? In jedem Fall war das Vorgehen sehr dilettantisch.

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Poliçan Waffenfabrik
Waffenfabrik von Poliçan