50’000 COVID-19-Infektionen und 1000 Tote
Am Sonntag wurde in Albanien das tausendste Corona-Opfer verzeichnet, und die Zahl der COVID-19-Fälle erreichte gestern die Marke von 50’000. Die Zahlen sind vielleicht nicht ganz so hoch wie in anderen Ländern, aber in den letzten Monaten doch stark angestiegen. Für das albanische Gesundheitswesen ist die Krise eine grosse Herausforderung. Die Zahl der hospitalisierten Patienten ist im Oktober und November rasch angestiegen.
Strapaziertes Gesundheitswesen
Der albanische Staat hat in den letzten Jahren viel in die Verbesserung des schwachen Gesundheitswesens investiert. Aber COVID-19 stellte nochmals eine höhere Hürde dar. Regelmässig wurden seit Beginn der Pandemie in Tirana neue »Spezialkliniken« für Corona-Patienten eröffnet. Heute eröffnete erstmals auch ausserhalb der Hauptstadt, in Elbasan, ein Krankenhaus eine Abteilung für Corona-Patienten. Fünf weitere regionale Krankenhäuser sollen folgen.
Der Aufbau neuer Infrastruktur wurde gut bewältigt – auch dank ausländischer Hilfe. So hat zum Beispiel die Schweiz zusammen mit anderen Partnern mehrere Beatmungsgeräte finanziert. Fraglich ist, woher die Fachleuten kommen für die neuen Kliniken. Gesundheitspersonal ist rar – alle wandern nach Deutschland aus, wo Fachkräfte ebenfalls gesucht sind. Fachärzte für Lungenkrankheiten dürfte es nicht viel geben im kleinen Land.
So überrascht es nicht, dass sich in manchen Nächten die Ambulanzen vor den Kliniken staunten und einzelne Patienten mehrere Stunde auf die Aufnahme warten mussten. Auch die Tatsache, dass meist nur wenige Patienten für Gesund erklärt werden, wenn die Zahl der Neuinfektionen hoch ist, weist auf eine grosse Überlastung im Gesundheitswesen.
Infiziertes Spitalpersonal führt immer wieder zu Engpässen. Hinzu kommt, dass bis jetzt leider bereits 25 Ärzte am Virus verstorben sind.
Misstrauen gegenüber Spitälern
Viele Albaner vertrauen jedoch den Ärzten nicht. Das Bild von unfähigen Ärzten, die kaum über medizinische Mittel verfügen und sich nur mit einem ordentlichen Zustupf bewegen, ist noch immer in vielen Köpfen verankert. Sie misstrauen den Fähigkeiten der einheimischen Ärzte und den Möglichkeiten in den albanischen Spitälern.
Viele Albaner lassen sich deshalb nur ungern in ein Krankenhaus einliefern. Sie glauben, dass Krankenhäuser mehr Orte des Sterbens als Orte der Heilung sind.
Viele Albaner bleiben somit lieber zuhause und lassen sich dort behandeln. Sie bezahlen Krankenpflegern, die zum Teil kaum über Fachwissen verfügen, Unsummen für regelmässige Hausbesuche und erhalten dafür eine Behandlung ohne ärztliche Aufsicht und Verschreibung.
Diese unprofessionelle Behandlungen können fatale Folgen haben, und oft kommen schwere Fälle zu spät in die Krankenhäuser, was die Heilungsschancen durchaus erschwert.
Beobachter stellen den albanischen Medizinern aber keine schlechte Noten aus. Die medizinsche Behandlung sei gleichwertig wie in vielen anderen Ländern. Die Überlebenschancen für künstlich beatmete Patienten sei in Albanien nicht schlechter als zum Beispiel in der Türkei, erklärte eine Ärztin gegenüber dem Rechercheportal BIRN.
Schulden für Behandlung im Ausland
Trotzdem reisten viele Betroffene für die Behandlungs ins Ausland – insbesondere in die Türkei. Medien berichteten von Hunderten von medizinischen Flügen, die im Oktober und November den Flughafen Tirana verlassen hätten. An manchen Tagen seien es über zehn Transporte von Kranken gewesen.
Gerade prominente Persönlichkeiten – darunter einige religiöse Würdenträger – wurden rasch für die Behandlung in die EU-Nachbarländer gebracht. Aber auch viele Privatleute suchten ihr Heil im Ausland.
Fachleute meinen, dass die türkischen Privatspitäler vor alllem besseren Gästeservice und mehr Bequemlichkeit bieten, aber medizinisch den Albanern nicht wirklich voraus seien. Eine Behandlung in Istanbul kommt dabei schnell auf 50’000 Euro zu stehen inklusive Flug. Kein Wunder, dass viele Patienten zwar gesund, aber mit hohen Schulden aus dem Ausland zurückkehren.
Hohe Übersterblichkeit
Dass die Lage in Albanien dennoch ernst ist, zeigt sich in den Zahlen von INSTAT, dem statistischen Amt Albaniens. Gemäss unseren Berechnungen weisen diese für das dritte Quartal eine hohe Übersterblichkeit aus. Im Vergleich zu den Jahren 2016 – 2019 sind von Juli bis September 27 % mehr Personen gestorben als im Schnitt und 23 % mehr als als im Jahr mit dem höchsten Wert. Somit hat Corona in Albanien allein im dritten Quartal zu mindestens 1000 zusätzlichen Todesopfern geführt.
Die Zahlen des Gesundheitsministeriums weisen hingegen fürs dritte Quartal nur 325 Corona-Tote aus. Die Dunkelziffer von nicht ausgewiesenen Coronaopfern scheint also doppelt so hoch zu sein als die offizielle Zahl. Für das vierte Quartal liegen noch keine Statistiken vor – aber es ist mit doppelt so vielen Corona-Toten zu rechnen als im vorangehenden Quartal.
Die Zahl von 1000 bestätigten Todesfällen seit dem Beginn der Pandemie stimmt schon traurig. Wir müssen aber davon ausgehen, dass tatsächlich deutlich mehr Menschen dem Virus zum Opfer gefallen sind. Darunter sind auch einige junge Menschen und viele ältere, die noch Jahrzehnte hätten leben können.
Der Lockdown im Frühjahr hatte hingegen gegenteilige Folgen: Da die Albaner wochenlang kaum aus dem Haus durften und somit weder verunfallen noch sich gross anstecken konnten, sind im ersten Halbjahr 2,5 % weniger Personen gestorben als im Schnitt der vorangegangen vier Jahre.
Der Kampf gegen die Zahlen
Auch die albanische Regierung hat im Herbst wiederholt die Massnahmen erhöht, um die Ausweitung des Virus zu bremsen. Abendliche Schliessung von Restaurants und Bars, Maskenpflicht ausserhalb der eigenen Wohnung und Homeschooling für höhere Jahrgänge gehören schon länger dazu und zeigen auch langsam Wirkung. Zumindest der steile Anstieg bei den Neuinfektionen konnte gestoppt werden.
Zu bedenken ist aber auch, dass Albanien im ersten Halbjahr 2021 ein neues Parlament wählen wird. Der Virus dürfte also bald von den üblichen politischen Themen verdrängt werden. Dabei muss unbedingt verhindert werden, dass die Pandemie einen ordentlichen Wahlkampf verunmöglicht. Die Opposition muss sich endlich wieder am Politbetrieb beteiligen.
Immer wieder stellt sich mit Blick auf die Politik auch die Frage, wie viel Vertrauen in das täglich vom albanischen Gesundheitsministerium zur Verfügung gestellten Datenmaterial gesetzt werden kann. So wurde zum Bespiel für Kamza seit über einem Monat keine Neuinfektion mehr verzeichnet. Andererseits berichten Medienquellen davon, dass Kamza ein Hotspot der Pandemie sei – was wenig überrascht. Es gibt verschiedene Erklärungsversuche, weshalb für die sechstgrösste Gemeinde Albaniens nur ganz wenige Corona-Infektionen geemeldet wurden. Was auch immer der Grund sein dürfte – die offiziellen Zahlen sind diesbezüglich nicht aussagekräftig. Es ist zu hoffen, dass diese und andere kleinere Unstimmigkeiten kein System haben, sondern nur Ausdruck von Problemen bei der Datenerhebung und Datenerfassung sind.
In Albanien wird fleissig auf Corona getestet – aber sicherlich nicht genug (die Positivitätsrate überstieg in den letzten Wochen zum Teil 35 %). Nur wenn Politiker, Mediziner, Kranke und die Bevölkerung vereint das Virus bekämpfen, wird sich in absehbarer Zeit eine Besserung abzeichnen.
Impfstoff noch nicht greifbar
Beim Imfpstoff gibt es für Albanien nämlich noch keine guten Nachrichten, obwohl zur Chefasache erklärt. Ministerpräsident Edi Rama kam mit leeren Händen von Unterredungen mit Impfstoffherstellern aus den USA zurück. Anscheinend ist es für ärmere Länder nicht so einfach, hier handelseinig werden zu können. »Vielleicht im Februar«, hiess es von Rama – wobei er sich natürlich optimistischer ausdrückte.
nlA / Lars Haefner