newsletter Albanien

Schweizer Zeitschrift für die Zusammenarbeit mit Albanien
Informationen für an Albanien Interessierte

Swiss non-profit Journal for the Cooperation with Albania

Journal Suisse pour la Cooperation avec l'Albanie


 
 
Albanien

Allgemeine Informationen

Aktuelle Ausgabe

Alte Ausgaben

Adresse

Abonnements

Mein Artikel

Informations en Français

Articles en Français

English Informations

Articles in English

Der Kanun ist zurück

Reflexionen eines Albaners über die Rückkehr des »Kanun Lek Dukagjini«, dem jahrhundertealten, ungeschriebenen Gewohnheitsrechts der Albaner

Heute müssen nach offiziellen Angaben die Männer von über 10000 Familien in Nordalbanien zu Hause bleiben, weil sie riskieren, Opfer der Blutrache zu werden. Nach einer halben Dekade hat Albanien endlich seine kommunistische Herrschaft abgeschüttelt und eine demokratische Epoche begonnen. Langsam wird Albanien wie ein westeuropäischer Staat, mit Vollfunktionalität und verbessertem Lebensstandard. Wie zu erwarten, erscheinen viele neue und alte, gute und schlechte Prozesse, Phänomene und Traditionen während der sogenannten »Umwandlungsperiode«. Es gibt viele Arbeitslose, Drogen, AIDS, Kriminalität und Prostitution, früher niemals in so hohen Parametern gesehen, aber es gibt jetzt auch Freiheit und Gerechtigkeit, ebenfalls früher fast niemals gesehen.

Rückkehr und Konsequenzen des Kanun
Eine »neue« gesellschaftliche Lebensordnung, der Kanun von Lek Dukagjini [vgl. newsletter Albanien #6], der rund 600 Jahre alt ist, kehrt nach etwa einem halben Jahrhundert Pause während des Kommunismus besonders in Nordalbanien zurück. Darin sind die gesellschaftlichen Gewohnheitsrechte der Albaner über Leben und Tot, Morden und Ehre geregelt. Zu betonen ist, dass diese Regeln nirgendwo geschrieben waren und trotzdem jahrhundertelang das einzige waren, was die albanische Bevölkerung respektierte. Der Kanun wird als »primitives« Recht oft kritisiert. Man kann aber nicht bloss sagen, der Kanun sei schlecht und dürfe heute nicht mehr als Lebensordnung gelten, oder der Kanun sei das beste Gesetzt in Albanien und die Albaner müssten zurückkehren und gemäss ihm leben. Meine eigene Meinung ist folgende: Es gibt viele Regeln im Kanun, die noch aktuell für die Albaner sind und eine gewisse Zukunft haben, zum Beispiel die Ehre, die Gastfreundschaft, versprochenes Wort zu halten (alb. Besa) aber auch andere, wie die Blutrache, oder die Bevormundung der Frau, mit denen sofort Schluss sein sollte.

Die Rückkehr des Kanun hat gewisse Einflüsse auf das Leben des ganzen Gebiets und des ganzen Landes, aber wenn er wieder auflebt, bedeutet das, dass es einem gewissen Teil der Bevölkerung gefällt und er gemäss ihm weiterleben will. Das sind teilweise die Hochland-Albaner, die in diesen Bruderkrieg zurückgekehrten sind, wo sie einander töten nach den Normen und Regeln des Kanun, ohne weiter zu denken. Die sehen nur Blut, Sühnenahme und Blutrache nach den Kanunsregeln »Blut für Blut und Wunde für Wunde« oder »Blut für Blut und Busse für Busse« und das ganze läuft unter dem Ehrbegriff. Für die Albaner ist Ehre ein Bestandteil des Lebens. »Man verliert das Leben, aber nicht die Ehre« sagt der Kanun. Aufgrund dieses Satzes setzen sie heute den Bruderkrieg fort, sonst glauben sie, sie können nicht mehr leben. Und wenn ein Herr des Blutes (das ist die Person, der das Recht zusteht, den getöteten Verwandten zu rächen) nicht einverstanden ist mit diesen Regeln und damit Schluss machen will, ist er einem hohen Druck von der ganzen Gesellschaft ausgesetzt und muss entweder aus dem Land ausreisen und irgendwo anders »ehrlos« leben, oder Sühne nehmen, das heisst, den Blutschulder töten und dann warten, bis er oder ein anderer Familienangehöriger tot ist, und so geht dieser endlose Bruderkrieg weiter.

Einfluss der Kommunisten
Während der kommunistische Herrschaft gab es fast keine Blutrache-Fälle, die Frauen hatten wenigstens nach dem Gesetz Gleichstellung. Die Kommunisten haben versucht, Schluss zu machen und den Kanun durch ihre Gesetzte zu ersetzen. Sie haben einiges erreicht und versucht, Nordalbanien auf das Niveau des Restes des Landes zu bringen. Aber die Realität war anders, als sie sie sich vorgestellt hatten. Nach ihrem Ende ist der Kanun zurück. Wieso? Vielleicht gefällt es diesen Einwohnern besser, einander zu toten, oder noch heute wie im 13. Jahrhundert (Mittelalter) zu leben? Ich glaube nicht. Der grösste Anteil der neuen Generation Albaniens hat anderes vor. Die wollen wie Europäer leben, und ich glaube, die werden vom Kanun nur die besten Gesetze wie die Ehre, ein guter Mensch zu sein, Disziplin, Ordnung, Respekt vor den Älteren übernehmen.

Warum ist der Kanun zurück?
Oft stellt sich heute die Frage »Wieso ist der Kanun zurückgekehrt?« Es hat verschiedene Gründe. Das albanisches Volk und besonders die Hochland-Albaner, sind sehr konservativ, insbesondere die Älteren sind archaisch und patriarchalisch geblieben. Der Kanun ist sehr alt, und für eine lange Periode war er das einzige Gesetz der Berge. Damals gab es im Land keine staatliche Macht, geschweige Industrie, kaum Schulen und das allgemeine Niveau der Einwohner war sehr niedrig. Es gab sehr wenig Leute, die überhaupt lesen und schreiben konnten.

Historisch gesehen, entstand der Kanun in einer Zeit, als das albanische Volk überleben musste. Damals mussten die Albaner im Gebirge leben und ihr Leben nach einer eigenen gesellschaftlichen Ordnung einrichten. Das war die einzige Möglichkeit zum Überleben. Aber heute sind viele Konditionen anders. Albaner haben ein eigenes Land nur für sich, eine eigene Regierung und eigene Gesetze. Es hat wirklich keinen Sinn, einander zu töten in einer Zeit, in der das Land das ärmste in Europa ist. Oft gibt es Fälle, wo die Leute nicht wissen, warum sie einander töten müssen: Manchmal ist es etwas Altes aus der Geschichte, und sie müssen ihren Freund, ihre Verwandten, ihre Nachbarn erschiessen, weil jemand sagt: »Du musst ihn töten, weil er oder sein p-Familiengehöriger, vor n-Jahre Deinen x getötet hat, sonst verlierst Du die Ehre und bist kein Mensch«. Und oft genügt ganz wenig, um mit jemandem im Blut zu sein, ein Wort, eine falsche Bewegung oder sogar nur ein unbewusster Unfall. Das Ergebnis vom Ganzen ist, Hunderte Tote, Tausende in Häuser Isolierte, wo sogar die Kinder nicht mehr in die Schule gehen dürfen, das ganze Land paralysiert, wo nur die Frauen raus gehen dürfen, um Wasser oder Lebensmittel zu holen. Jetzt kommt die logische Frage »Was nützt das ganze?«. Es gibt verschiede Meinungen. Einige sagen, das sei ihr Recht zu leben, wie sie wollen, das sei die Demokratie, oder das sei der natürliche Krieg ums Überleben. Als ich jemanden fragte, der von diesem Gebiet kam und etwa 5 Jahre in Tirana studiert hatte: »Was sagst Du dazu?«, sah er mich völlig überrascht an und sagte »Ich, nichts! Das ist nicht meine Sache. Die wollen das machen, und das ist ihr Recht«. Und als ich fragte, was er machen würde, wenn seine Familie in einer Blutrache wäre, sagte er: »Ich würde machen, was alle tun«. Aber es gibt auch viele andere, die denken, dass es nur ein Bruderkrieg ist, eine Schiesserei, die so bald wie möglich einen Schluss haben soll. Für das wurden die sogenannten »Friedens Kommissionen« (Alb. Komisionet e Pajtimit) eingerichtet, die einiges geschafft haben, einige Familien sind jetzt in die Normalität zurückgekehrt. Aber wenn die Zahl der Fälle zunimmt, bedeutet das, dass die Arbeit von diesen Kommissionen nicht genug ist. Auch die Regierung muss diesen Bruderkrieg stoppen. Der Grund dafür ist klar: »Du hast jemandem getötet, Du bist ein Killer, Du musst ins Gefängnis, für denn Rest Deines Lebens.«

Die Frauen im Kanun
Ein neuer, heutiger Aspekt des Kanun ist auch die Rückkehr ins Patriarchat. Während der kommunistischen Epoche hatten die Frauen im Hochland zumindestens eine Arbeit, waren mehr emanzipiert und hatten nach Gesetzt Gleichrechtigkeit mit dem Männer. Leider sind sie heute teilweise, wie der Kanun sagt, zum »Ende der Familie« geworden. Solche Gesetze wie »Der Mann herrscht, die Frau gehorcht«, »Die Frau ist ein Sack, der zum Tragen bestimmt ist«, oder »den Frau steht es nur an, den Mund aufzumachen, wenn sie essen«, erscheinen heute zurück. Die sind klare Signale der Rückkehr ins Patriarchat.

Man merkt heute einen »grossen« Unterschied auch zwischen Nord- und Südalbanien. Und das ist nicht nur das Klima oder die Landschaft, sondern auch der Lebensstandard, das Lebenskonzept und die Ökonomie. Der grösste Unterschied sind die Leute selbst: In Südalbanien gibt es kaum Blutrache, und die Leute wohnen zusammen in Frieden, ohne Angst, dass jemand sterben könnte, wenn er raus geht.

Welche Zukunft hat der Kanun?
Es gibt heute aber auch viele Leute in Nordalbanien, besonderes die Jungen, die gegen der Kanun sind, die den Schluss der Blutrache wünschen und andere die sogar sagen: »Ich töte niemandem mehr und möchte als normaler Mensch leben.«

Nach dieser und andere Angaben ist klar, dass der Kanun zu Ende geht. Es kann heute im 20. Jahrhundert nicht funktionieren mit Gesetzte des 13.Jahrhundert. Die Welt ist völlig anders. Wenn der Kanun weiter leben will, muss er unbedingt revidirt werden, wobei ich hoffe, dass nur die »guten« und aktuellen Regeln übernommen werden. Ich hoffe, die junge Albaner werden bald diese schwierige Aufgabe übernehmen. Aber wie gesagt, es ist das albanische Volk, das über seine Zukunft entscheiden wird.

Renato Çumani, aus Tirana, macht zur Zeit ein Nachdiplomstudium am Geographischen Institut der Universität Zürich

-› Probeabonnements

© newsletter Albanien: Wiedergabe von Text und Bildern in irgendeiner Form nur mit Genehmigung der Redaktion