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Die sonderbare Sprache einer sonderbaren Welt Innerhalb von drei Jahren hat der Autor Yljet Aliçkaj zwei Bücher veröffentlicht - beide unter dem unscheinbaren Titel »Kurzgeschichten« Der Autor, 1951 geboren, hat Naturwissenschaften studiert, einige naturwissenschaftliche Schulbücher verfasst und zehn Jahre in verschiedenen Gegenden Nordalbaniens gearbeitet. Zumeist aus dieser Zeit beziehen seine Kurzgeschichten ihre Thematik, unprätentiöse Beschreibungen einfacher Menschen, Schüler und Lehrer, die einen Bezug zur Dorfschule haben, an der er selber jahrelang tätig war. Trotz der Einfachheit dieser Beschreibungen ist für den Leser im Hintergrund der Druck, die Angst, der schiere Irrsinn zu spüren, mit dem die Menschen zu leben gezwungen waren. »Parolen aus Stein«, heisst eine der besten Kurzgeschichten in Aliçkajs Buch. Allein der Titel liefert einen gewissen soziokulturellen Hintergrund mit. »Der sonderbare Sprachgebrauch« öffnet ein Fenster auf »die sonderbare Welt«. Parolen waren in der kommunistischen Zeit in Albanien Phraseoschablonen, notorische Worthülsen, von denen Zeitungen, die Veröffentlichungen der Partei- und Staatsführung sowie die Protokolle der obligaten Versammlungen durchsetzt waren. Hier einige dieser Phraseoschablonen, auf die Aliçkaj in seinem Text rekurriert: Armiku më i rrezikshëm është armiku që harrohet / Der gefährliste Feind, ist ein Feind, den man vergisst. Partia është maja e shpatës së klasës punëtore / Die Partei ist die Spitze des Schwertes der Arbeiterklasse. Kromi çan bllokadën / Chromdurchbricht die Blockade. Rroftë internacionalizmi proletar / Es lebe der proletarische Internationalismus. Vigjilencë, vigjilencë dhe përherë vigjilencë / Wachsamkeit, Wachsamkeit und allzeit Wachsamkeit. Të ngremë lart moralin proletar / Lasst uns die proletarische Moral hochhalten. Të mendojmë, të punojmë, të jetojmë si revolucionarë / Lasst uns denken, arbeiten und leben als Revolutionäre. Vietnami do të fitojë / Vietnam wird siegen. Rroftë diktatura e proletariatit / Es lebe die Diktatur des Proletariats. Zum Aufgabenbereich eines Dorfschullehrers gehörte damals auch eine Stein-Parole. Lehrer und Schüler hatten auf einem Berghang eine Parole aus Stein aufzustellen. Ihr Inhalt hatte politisch linientreu zu sein und war nach dem Muster obengenannter Phraseoschablonen vorgefertigt. Anhand dieser Arbeit lernt der Leser die Lehrer der Dorfschule kennen. Jeder von ihnen ist für eine bestimmte Parole verantwortlich und hat darüber Rechenschaft abzulegen. Davon ist sozusagen sein Leben abhängig. Diese formelhaften Wortverbindungen waren das Prokrustenbett der damaligen albanischen Gesellschaft. Der Leser ist verblüfft und fragt sich wahrscheinlich, ob es wirklich jemals Menschen gab, die solch blanken Unsinn ernst genommen haben. Die Phraseoschablonen entfalten sich in der Erzählung des Autors subtil und am Schluß ist die Tragikomik bis ins Knochenmark spürbar. Die Phraseoschablonen aktivieren beim Leser einen gewissen soziokulturellen Hintergrund, und der Autor gibt ihm die Möglichkeit, im nachhinein diesen Hintergrund assoziativ zu erweitern und zu beleben. Albanien war lange Zeit ein weisser Fleck. Es gab wenig Möglichkeiten, dorthin zu fahren, man hat wenig davon gehört. Erst vor zehn Janren hat man »erfahren«, daß dieses Land zu Europa gehört. Aliçkajs Kurzgeschichten geben jedem Leser, der etwas mehr erfahren will, ein lebendiges Bild davon an die Hand, wie das alltägliche Leben im damaligen Albanien war und was diese Menschen zur Massenflucht aus ihrem Land gebracht hat. Aliçkaj liefert ein schlichtes Porträt: eine Dorfschule in einem vergessenen Dorf, Schüler, die den Schüler von Migjeni ähneln (einem albanischen Schriftsteller der dreißiger Jahre), der Gefangene und seine Mutter, die Bauern, der Parteisekretär, der Spitzel, die deklassierte Familie. »Das schwierige Jahr« heißt eine andere schöne Kurzgeschichte. Es geht um das Jahr 1997: »Im Jahre 1997 war es in Albanien sehr schwierig, seinen Lohn zu bekommen«; »in jenem Frühling stand das Land ohne Regierung da, ohne Polizei, ohne Gefängnis, ohne Armee«; »die Kasernen der Armee waren völlig zerschlagen«; »die Waffen waren eindeutig überall«. Innerhalb dieses Hintergrundes fliesst die Alltagsproblematik der Menschen ein, deren Bilder man oft in der Zeitung unter Schlagzeilen gesehen hat, ohne zu verstehen, was eigentlich mit ihnen los ist. Während ich mir Gedanken machte, wie man das Wort für die formelhaften Phraseoschablonen am besten auf Deutsch wiedergeben könnte, kam mir ein bekannter deutscher Albanologe in den Sinn. Auf die Frage, wie er Albanisch gelernt habe, hatte er geantwortet: »Anlässlich meiner ersten Reise nach Albanien, in den siebziger Jahren, habe ich die Parolen, die überall in grossen Lettern geschrieben standen oder in Stein gehauen waren, abgeschrieben und habe so angefangen Albanisch zu lernen«. Nun, man lernt eine Sprache, um das Land besser verstehen zu können. »Parolen aus Stein« und die anderen Kurzgeschichten von Aliçkaj bringen Albanien jedem Leser näher, der mehr erfahren will, als die Schlagzeilen vermitteln. Der Autor hat vor kurzem eine Auszeichnung einer Internationalen Akademie mit Sitz in Paris erhalten. Sein Buch »Parolen aus Stein« ist vor kurzem auf Französisch erschienen (vgl. auch nlA #24). Jonida Xhyra
Jonida Xhyra, 1970 in Elbasan (Albanien) geboren, hat in Elbasan und Freiburg Albanische und Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft studiert. Zur Zeit arbeitet sie in München an einer textlinguistischen Dissertation. An der Münchner Volkshochschule unterrichtet sie Albanisch - allerdings ohne Parolen aus Stein.
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