newsletter Albanien

Schweizer Zeitschrift für die Zusammenarbeit mit Albanien
Informationen für an Albanien Interessierte

Swiss non-profit Journal for the Cooperation with Albania

Journal Suisse pour la Cooperation avec l'Albanie


 
 
Gesundheit

Inhalt Nr. 28$

Newsletter HOME

Aktuelle Ausgabe

Alte Ausgaben

Adresse

Abonnements

Mein Artikel

Informations en Français

Articles en Français

English Informations

Articles in English


www.albanien.ch

Psychologie im Armenhaus

Trotz chaotischer Zustände in der albanischen Verwaltung und Gesellschaft hilft der Kinder- und Jugendpsychologe Armin G. Kunz seit knapp vier Jahren mit, die miserable psychologische und medizinische Versorgungslage für Kinder zu verbessern

Meine Tätigkeit in Albanien begann vor knapp 4 Jahren. Als damaliger Mitarbeiter am Universitäts-Kinderspital Zürich reisten Oberarzt Markus Schmid und ich im Oktober 1996 nach Albanien, um dort ein zweiwöchiges Seminar zum Thema »Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern« zu halten. Dieses Seminar war als Bestandteil eines Ausbildungszyklus für albanische Kinderärzte, Kinderkrankenschwestern und Mütterberaterinnen konzipiert.

Albanien war für mich ein weisses Papier. Nur wenig wusste ich von diesem Land und seinen Einwohnern. Angekommen in Tirana musste ich mich mit den unbekannten Bedingungen auseinandersetzen. (...) Und in diesem Land mit all seinen Problemen sollten Markus Schmid und ich über die Entwicklung des Kindes reden, wo doch über die Entwicklung eines ganzen Landes geredet werden sollte! Paradox oder Chance?

Es fehlen Wissen und Geld
Kinder mit Entwicklungsstörungen erhalten in Albanien bis heute wenig bis keine medizinische oder therapeutische Unterstützung. Dies gilt auch für die Beratung der Eltern. Die Fachleute sind überfordert; ihnen fehlen sowohl das berufliche Wissen wie die nötigen finanziellen Mittel. Gemäss Schätzungen von Prof. Dr. Virxhil Nano vom Pädagogischen Institut Tirana gibt es heute für nur knapp zehn Prozent aller behinderten albanischen Kinder einen Platz in einer Institution.

Bis vor kurzem waren albanische Kinderärzte nicht in der Lage, Entwicklungsstörungen bereits im Säuglings- oder Kleinkindsalter zu diagnostizieren. Der Fachbereich der Entwicklungspädiatrie war bis vor wenigen Jahren inexistent. Eine Sensibilisierung für diesen Berufsbereich und für therapeutische Berufe wie Heilpädagogische Frühberatung, Logopädie, Physio- oder Ergotherapie für Kinder hat in Albanien erst vor kurzer Zeit begonnen. Für diese Berufe gibt es noch immer keine Ausbildungsstätten.

Ähnliches gilt auch für den Studiengang Psychologie. Erst diesen Sommer werden die ersten an der Universität ausgebildeten jungen Psychologen ihr Studium beenden. Folglich wird es noch weitere Zeit dauern, bis es auch in Albanien verschiedene weitergebildete Fachpsychologen geben wird. Und solche braucht es!

Behinderte Kinder vernachlässigt die albanische Gesellschaft genauso wie andere Balkanländer oder die ehemaligen Sowjetrepubliken. Mit der Errichtung eines nationalen Zentrums soll nun eine Institution geschaffen werden, in der Kinder mit Entwicklungsstörungen zusammen mit ihren Eltern durch kompetentes Fachpersonal beraten und betreut werden.

»Nationales Zentrum«
Obschon der Kinderarzt Markus Schmid und ich aus verschiedenen Berufen stammen, fanden wir eine gemeinsame Sprache. Uns schien es wichtig, einfach und gut verständlich über die Entwicklung des Kindes zu referieren. Dabei überschnitten sich unsere Fachgebiete, ohne dass daraus ein Kompetenzgerangel entstanden wäre. Unsere »Einigkeit« schien die albanischen Fachkollegen zu beeindrucken, wie sie uns später mitteilten. Am Ende des zweiwöchigen Seminars äusserten sie den Wunsch, mit uns weiter zusammenzuarbeiten.

Unerwarteterweise entstand also im September 1996 aufgrund des Seminars ein neues »Projekt«. Das bisherige Entwicklungs-Konzept - Caritas ist seit 1993 im »Distrofik«-Spital in Tirana tätig - wurde abgeändert in das Projekt »Distrofik 2000 - ein Spital für Kinder bis 7 Jahre mit Entwicklungsschwierigkeiten«.

»Distrofik« war ursprünglich ein kleines Spital für unterernährte Kinder. In Wirklichkeit belegten vorwiegend Waisen oder Kinder aus schwierigsten psychosozialen Familienverhältnissen im Alter zwischen vier Monaten und 61/2 Jahren dieses Spital. Insgesamt lebten dort um die 50 Kinder. Ungefähr ein Drittel von ihnen war leicht bis schwer behindert.

Das Pflegepersonal war und ist vor allem im Umgang mit behinderten Kindern überfordert. Die jüngeren Kinder wurden meistens in ihren Betten gelassen. Ab und zu trugen die Pfleger sie herum oder legten sie zur Bewegung auf ein kleines Stück Teppich auf dem kaltem Steinboden und fütterten sie zu den Essenszeiten. Die grösseren Kinder rasten in den Gängen herum. Gemeinsame Aktivitäten fanden selten statt. Nur manchmal kamen die Kinder hinaus ins Grüne. Die meiste Zeit verbrachten sie in den Räumlichkeiten des Spitals, das von der Ausstattung her in einem bedenklichen Zustand war: wenig bis keine Spielzeuge, kaum fliessendes Wasser (warmes schon gar nicht), undichte Fenster, schlecht funktionierende Heizung.

Schweizer Mitarbeiter
Die Arbeit ist bis heute eine Herausforderung geblieben. Die Zusammenarbeit mit Albanien gestaltet sich als komplexer und komplizierter Prozess. Die Arbeitsbedingungen sind zum Teil sehr schwierig und verlangen immer wieder viel Geduld und Flexibilität. Ständig kommen unvorhersehbare Ereignisse seitens der Stadtverwaltung wie der Projekt-Mitarbeiter erschwerend hinzu. Dies verunmöglicht eine längerfristige Planung. Ständig neue Standortbestimmungen und allenfalls Neuorientierungen sind erforderlich.

Der St. Galler Kinderarzt Dr. med. Arthur Keel - Projektleiter seit 1993 - und ich reisen beide regelmässig nach Albanien. Während Arthur Keel die Projektleitung innehat, lag mein Auftrag zu Beginn vor allem in der fachlichen Sensibilisierung und Vorbereitung des Personals für die neue Aufgabe. Dies fand auf eine relativ einfache Weise statt, indem ich beispielsweise in Anwesenheit der ärzte und Krankenschwestern Entwicklungsabklärungen bei Säuglingen und Kleinkindern oder Fallbesprechungen von Kindern des Spitals durchführte. So konnten die albanischen Kollegen unmittelbar die Kompetenzen dieser Kinder erleben - und reagierten zum Teil mit grossem Erstaunen!

Weiter besorgten wir Spielsachen, führten Massagekurse für Kinder. Auch die Einführung eines Kindergartens wurde diskutiert. In dieser Zeit baute unser Architekt Martin Lerch die Kinderzimmer um. So wurden beispielsweise alle Kinderzimmer mit Linoleum ausgestattet, um für die Kinder freien Bewegungsraum zu schaffen. Es war uns ein Anliegen, auf verschiedensten Ebenen nach Verbesserungen der Lebenssituation der Kinder und der Arbeitssituation des Personals zu suchen, neue Perspektiven zu schaffen.

Für all diese Aufgaben reiste ich im Frühjahr 1997 eine Woche pro Monat nach Tirana. Leider setzten die politischen Unruhen infolge der Geld-Pyramiden-Geschichte unserer Projektarbeit ein vorläufiges Ende. Im Frühling 1998 wurde meine Arbeit fortgesetzt.

Meine Hauptaufgabe liegt heute in der Planung und Koordination der Ausbildung der albanischen Fachleute in der Schweiz sowie der Supervisionsaufenthalte der Schweizer Fachleute in Albanien. Selber bin ich ebenfalls mit Ausbildungs- und Supervisionsaufgaben in Tirana betraut. Viele andere Tätigkeiten kommen hinzu, so dass die Bezeichnung »Allrounder« meiner Arbeit am besten entspricht.

Der Schwerpunkt meiner Ausbildungstätigkeit liegt in der entwicklungspsychologischen Ausbildung der angehenden albanischen Entwicklungspädiater. Dazu gehören beispielsweise die Durchführung verschiedener Tests, die Auswertung und Interpretation der Ergebnisse, das Bestimmen weiterer Massnahmen, das Verordnen geeigneter Therapien sowie das Auswertungsgespräch mit den Eltern. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Zusammenarbeit mit den andern Berufsgruppen, das heisst in den interdisziplinären Fallbesprechungen. Bei jedem meiner Aufenthalte sitzt die ganze rund 15köpfige Projektgruppe zusammen und gemeinsam diskutieren wir verschiedene Kinder, die aufgrund ihrer Verhaltensauffälligkeiten dem Personal in irgendeiner Art Schwierigkeiten bereiten. Dieses Vorgehen soll nebst der Wissensvermittlung auch der Förderung des Gruppenprozesses dienen. Direkt mit den Kindern arbeite ich nicht. An Seminarien halt ich Vorträge über die Thematik »Entwicklung von Kindern und Entwicklungsstörungen«.

Wichtig bei meiner Arbeit scheint mir, dass die albanischen Fachleute wahrnehmen und spüren können, dass mir meine Tätigkeit wichtig ist und mir die medizinische und psychologische Versorgungslage der Kinder und ihrer Eltern ein persönliches Anliegen ist. Es reisen viele Fachleute nach Albanien, halten ihre Vorträge und kehren dann wieder zurück in ihre warme Stube, während die Albaner wegen einem Stromunterbruch ihre Wintermäntel anziehen müssen. Viele von ihnen sind es sich nicht gewohnt, alleine etwas auf die Beine zu stellen. Sie brauchen eine begleitende Untersützung.

Fachlich können wir uns recht gut verständigen. Schon aufgrund der bisherigen Ausbildung ist ihre Sichtweise der Entwicklung von Kindern mit der unsrigen recht ähnlich. Hinzu kommt natürlich auch die Tatsache, dass sich albanische Kinder nicht anders entwickeln als unsere. Schwierigkeiten entstehen meistens aus sprachlichen Missverständnissen wie wegen Rivalitätsgeschichten. Da unterscheiden sich Albaner nicht von den Schweizern.

In der Schweiz haben wir ein ganzes Mitarbeiter-Netz aufgebaut. Zu hoffen ist, dass in naher Zukunft auch die Ergotherapie sowie die Kinderpsychologie vertreten sein werden. Zur Erfüllung letztgenannter Hoffnung sind bereits Schritte unternommen worden.

Zusammenarbeit
Im April 1998 wurde mit dem Gesundheitsministerium eine Vereinbarung unterzeichnet, das lokale »Distrofik«-Spital umzufunktionieren. Die wichtigsten Aufgaben betreffen die Ausbildung des entsprechenden Personals sowie die Renovation des Gebäudes. Im Sommer 1999 wurde im Gesundheitsministerium entschieden, dass sich das Distrofik-Spital zum »Nationalen Zentrum für Wachstum, Entwicklung und Rehabilitation« entwickeln soll. Es wurden folgende Grundzüge erarbeitet. Das Zentrum bleibt eine pädiatrische Institution. Zielgruppe sind Kinder im Vorschulalter und deren Familien. Entsprechende Fachleute werden ausgebildet. Das erlernte Fachwissen soll in Zukunft auch in andern Städten Albaniens Fuss fassen. Ein ebenso wichtiger Teil des Projektes ist die Administration und das Management des Betriebes. Für diese Aufgabe wurde eine albanische Betriebsökonomin eingestellt.

Hindernisse
Das grösste Hindernis - und das ist das wirkliche Paradoxon an der ganzen Projektarbeit - ist die albanische Bürokratie. Korruptionsgelüste und Eifersüchteleien machen vor unserer Tür nicht halt. Dies erfordert ein grosses Verständnis für die albanische Mentalität und Denkweise.

Die garantierte Kontinuität und das berufliche wie persönliche Engagement schaffen bei unseren albanischen Partnern Vertrauen und Zuversicht in einem Land ohne Perspektiven. Sie nähren die Hoffnung nach Veränderung. Auf der andern Seite ist es gerade ihr sehr grosses berufliches wie persönliches Engagement, das uns die nötige Kraft und Motivation gibt weiterzumachen, durchzuhalten und Ohnmachtsgefühle in jenen Momenten auszuhalten, wo wir albanisches Verhalten nicht mehr verstehen können.

In diesem Projekt stossen zwei völlig verschiedene Kulturen aufeinander. Hier begegnen sich Menschen verschiedener Welten. Das Thema »arm« und »reich« ist, wenn auch nicht thematisiert, ständig gegenwärtig. Wir aus der privilegierten Schweiz stehen den Albanern gegenüber, die sich ihrer Herkunft oft schämen.

Neue Wege der Enwicklungsarbeit
Die albanische Projektgruppe setzt sich - nebst einem Chauffeur und übersetzer - ausschliesslich aus Frauen zusammen. Die meisten von ihnen waren ehemalige Mitarbeiterinnnen des früheren »Distrofik«-Spitals und hatten bereits eine Grundausbildung sowie praktische Erfahrung in der Arbeit mit Kindern.

Bei der Auswahl der albanischen Mitarbeiterinnen haben wir darauf geachtet, dass wir für jedes Fachgebiet eine jüngere und eine ältere Frau auswählten. Dieses Modell hat sich bewährt. So sind beide Frauen immer zusammen in der Schweiz, können sich gegenseitig unterstützen und sich beruflich austauschen. Als Kleingruppe (Berufsfachbereich) fühlten sie sich innerhalb der gesamten albanischen Projektgruppe stark.

Ein für die Projektarbeit sehr förderlicher Ansatzpunkt ist die ausgewogene interdisziplinäre Zusammenarbeit unter den Schweizer Fachleuten sowie der Grundsatz »learning by doing«. Einerseits können wir uns so selber gegenseitig bereichern und stützen. Andererseits dient es den albanischen Mitarbeitern als Modell. So sitzen die albanischen Fachfrauen heute regelmässig zusammen zu interdisziplinären Fallbesprechungen und planen gemeinsam das weitere Vorgehen.

Doch in Albanien wie in der Schweiz gelingt ein Projekt nur dann, wenn ein paar Menschen diese Arbeit als ihre - zumindest zeitlich begrenzte - Lebensaufgabe betrachten und mit allen ihren Kräften mitmachen. Als vorbildliches Beispiel gilt die im National Center seit bald einem Jahr tätige albanische Direktorin, Dr. med. Donika Naqi. Im Sinne der angestrebten albanischen Eigenständigkeit des Projektes wurde sie zudem kürzlich zur Projektleiterin der albanischen Seite gewählt.

Auftraggeber - Finanzierung - Aussichten
Das Projekt wird mehrheitlich vom Staat Luxemburg finanziert. Die Koordination und Kontrolle obliegt der Caritas Schweiz. Caritas übernimmt die Finanzierung verschiedener vom Budget Luxemburg nicht vorgesehener Posten.

Eine entscheidende Projektphase wurde mit dem Umbau des Gebäudes im Herbst 2000 abgeschlossen. Jetzt beginnt eine zweite Phase, die sogenannte Konsolidierungsphase. Wichtig wird es sein, die fachspezifischen Tätigkeiten in Albanien weiter zu festigen und eine Zusammenarbeit mit andern Institutionen zu fördern. In einer weiteren Phase sollen das erlernte Wissen sowie die gesammelten Erfahrungen landesweit verbreitet werden. Schön wäre es, wenn es irgendwann auch noch zur Schaffung von Ausbildungsstätten für all die verschiedenen neuen Berufsdisziplinen kommen würde.

FSP Armin G. Kunz

Der Text wurde erstmals publiziert in »Psychoscope 3/00«

-› Probeabonnements

© newsletter Albanien: Wiedergabe von Text und Bildern in irgendeiner Form nur mit Genehmigung der Redaktion