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Traumatisierte Kinder

Psychosoziale Arbeit mit traumatisierten Kindern im albanischen Flüchtlingscamp Peqin

»Ich habe Angst, von Albanern aus dem Lager entführt zu werden.«, sagte leise die sechsjährige Arlinda, als ihre Mutter sie mir vorstellte, weil sie nachts wieder einnäßte und schrie. Zwei kosovarische Teammitglieder berichteten in einem anderen Fall, daß ältere Flüchtlingskinder das Spiel vorgeschlagen hatten, Bomben auf Belgrad zu werfen. In beiden Fällen sind es Beziehungen zu ethnischen Gruppen, die das Material dafür liefern, in denen sich Erfahrungen, Ängste oder Wünsche ausdrücken. Genau dies ist ein Charakteristikum der Arbeit mit traumatisierten Menschen, die traumatisiert wurden als Mitglieder einer Gruppe und nicht nur als Individuen.

Das Projekt »Psychosoziale Arbeit mit traumatisierten kosovarischen Kindern« wurde von dem Bundesvorstand des Arbeiter-Samariterbund Deutschland (ASB) für das Flüchtlingscamp in Peqin eingerichtet - etwa 50 km südlich von Tirana gelegen. Ein ähnliches Vorhaben hatte der ASB bereits in Mazedonien gestartet. Es wurde ausschließlich aus Spendengeldern finanziert, die im wesentlichen von der Stadtjugendkapelle Speyer und dem Bundesparteivorstand der SPD zur Verfügung gestellt wurden. Das Projekt begann am 19. Mai in Peqin und endete am 30. Juni, Nachdem fast alle Kinder mit ihren Familien das Flüchtlingscamp in Richtung Kosovo verlassen hatten.

In der Kleinstadt Peqin (13'000 Einwohner) waren in einem Camp auf einem ehemaligen Militärgelände 2300 Flüchtlinge untergebracht, darunter 700 Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren. Dazu kamen noch weitere 1500 Flüchtlinge (darunter 500 Kinder und Jugendliche), die in Privatwohnungen lebten und ebenfalls zentral vom Lager aus betreut wurden. Die Verwaltung der Stadt, insbesondere das Wasserversorgungsamt sowie die medizinischen und sozialen Einrichtungen, waren durch die finanziellen, versorgungstechnischen und sicherheitspolitischen Belastungen über ihre Möglichkeiten hinaus gefordert. Bezogen auf den Landesdurchschnitt war das numerische Verhältnis von Flüchtling zu Mutterlandalbaner mit fast 1:3 überdurchschnittlich ungünstig und die Belastungen der einheimischen Bevölkerung besonders drastisch. Wo Geld relativ reichlich und ungesteuert fließt, schockartig eine Region überflutend und unter Bedingungen, in denen wirtschaftliche Beziehungen nur rudimentär vertragsrechtlich geordnet sind, bleiben auch kontraproduktive Prozesse nicht aus. Die massenhafte Einführung ausländischer Währungen und die Anreicherung wie Ausdehnung des Geldverkehrs durch die zahlreichen Hilfsorganisationen tragen ungewollt zu einer Korrumpierung der wirtschaftlichen und administrativen Subjekte bei. Es ist bedeutsam, auch diese unbeabsichtigten negativen Auswirkungen der zahlreichen Hilfsorganisationen in Albanien im Blick zu behalten. Dazu zählen auch begonnene und geplante Maßnahmen, wie in unserem Fall die Einrichtung eines Kindergartens für einheimische und Flüchtlingskinder, die plötzlich gestoppt werden mußten, als die kosovarischen Flüchtlinge das Land wieder verließen.

Die Adressaten unserer Arbeit waren

  • schwerst traumatisierte Kinder aller Altersstufen (für die klinisch eine stationäre Unterbringung indiziert gewesen wäre) und alle Waisenkinder (insgesamt 20 Kinder),
  • systematisch alle 3- bis 6-jährigen Kinder (insgesamt 200 Kinder); in dieser Altersstufe ist unter klinisch-psychologischen Gesichtspunkten die Wahrscheinlichkeit der Ausbildung posttraumatischer Belastungsstörungen am größten (tatsächlich zeigte bereits jedes zweite 3- bis 6-jährige Kind Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung);
  • gefährdete Kinder aus der Gruppe der 0- bis 2-Jährigen, der Mädchen (älter als 6 Jahre) und der älteren Jungen (insgesamt 80 Kinder);
  • die Eltern dieser Kinder (etwa 50 Mütter, sehr selten Väter, nahmen die Angebote an).
Es soll hier nicht von der Gesamtstruktur der inhaltlichen Arbeit berichtet werden, sondern von der schwierigen Einbindung der Arbeit in die Alltagsstrukturen vor Ort unter dem Gesichtspunkt der Beziehung zwischen Kosovo Albanern aus dem Camp Peqin und Mutterlandalbanern aus der Region sowie den erlebten oder phantasierten Serben.

Traumata, die von Menschen verursacht werden - wie Vertreibungen, Folter oder Vergewaltigung - hinterlassen mit einschneidensten Erfahrungen von Ausgeliefert-Sein und Hilflosigkeit Spuren in der psychosomatischen Verfassung und den grundlegenden Erlebnisweisen der Opfer. Die immer wiederkehrenden Themen sind

  • die Selbstvergewissserung des Opfers,
  • das unter den Bedingungen des Flüchtlingsstatus und des Lagerlebens prinzipiell nicht zu befriedigende Sicherheitsbedürfnis
  • und der Macht - Ohnmachtkomplex selbst.
Alle diese Themen wiederum bündelten sich in dem kollektiven Thema der ungewissen Rückkehr in den Kosovo und werden behandelt in uneindeutigen Beziehungsgeflechten. Die Querverbindungen zwischen diesen Themen sind aufschlußreich, weil sie die subjektiven Handlungsbedingungen der Flüchtlinge definieren. »Nur wenn ich sicher bin, werde ich auch meiner selbst sicher sein können«. Die Befriedigung des Sicherheitsbedürfnisses schiebt sich in den Vordergrund, es ist die wesentliche, immer präsente Alltagsaufgabe und es ist die erste Perspektive des traumatisierten Flüchtlings, unter der er seine Beziehungen zu Helfern wie auch den Einheimischen insgesamt interpretiert. So ist der überstürzte Aufbruch in den Kosovo Ende Juni nach meinen Erfahrungen wesentlich dem in vielen Lagern auch nicht ansatzweise befriedigten Sicherheitsbedürfnis der Flüchtlinge geschuldet.

Jeder Kosovo Albaner, mit dem ich ausführlicher sprach, berichtete, es sei immer sein Traum gewesen, einmal nach Albanien zu kommen, das »Mutterland« kennenzulernen. Aber viele verließen es enttäuscht und resigniert. In manchen Fällen sind es Erfahrungen der Unbehaustheit aus den Lagern, die das Material bilden, mit dem Ängste ausgedrückt werden. Der Vater von Arlinda war in den Bergen von serbischen Milizen erschossen worden und die Mutter hatte ihren Kindern untersagt, über den toten Vater zu sprechen, weil sie meinte, ihre Kinder könnten es nicht ertragen, wenn über ihren Vater gesprochen wird. Tatsächlich aber überstieg es die Frustrationstoleranz der Mutter, wenn ihr getöteter Mann erwähnt wurde. Ohne ihn fühlte sie sich hilflos und unfähig, den gewaltigen Anforderungen gewachsen zu sein, die sich ihr nun stellten. Arlinda erlebte existentiell Angst, allein gelassen zu werden und zu sein. In diesem Beispiel zeigt sich nicht nur, wie ein Kind zu einem Symptomträger der Familie wird, um die unerträglichen familiären Spannungen zu mildern, sondern auch, daß aktuelle Erfahrungen aus dem Lagerleben als Material dienen, in der sich die Angst ausdrückt, allein zu sein. Tatsächlich gab es für die meisten Flüchtlinge auch diese Erfahrungen, die nicht nur ihr Sicherheitsbedürfnis frustrierten, sondern auch Angst erzeugten vor jenen, bei denen sie Zuflucht suchten.

Der Besuch der Schule in Peqin, der im Rahmen des Sommerschulprojekts der engagierten albanischen Schulbehörde mit unserer Unterstützung für die Flüchtlingskinder ermöglicht wurde, wurde bereits drei Wochen vor der Rückkehr in den Kosovo weitgehend eingestellt. Flüchtlingskinder berichteten, daß sie von älteren Kindern aus Peqin gehänselt und belästigt wurden. Unter großen Anstrengungen des Bürgermeisters von Peqin, der albanischen Schulbehörde und seitens vieler Einzelpersönlichkeiten wurde versucht, die Situation der Flüchtlinge erträglich zu gestalten. Dennoch war das Flüchtlingsleben insgesamt durch Unsicherheit und Rechtlosigkeit charakterisiert. In Albanien gab es beispielsweise eine groß angelegte Offensive arabischer Fundamentalisten, Flüchtlingslager aufzukaufen. In Peqin erlebte ich diesen Versuch als unmittelbar Mitbeteiligter und auch den Einsatz des großen Geldes, mit dem versucht wurde, regionale Machthaber zu bestechen. Allerdings schlug dieser Versuch in Peqin durch den couragierten Auftritt des dortigen Bürgermeisters fehl. Die Flüchtlinge selbst sind dabei nur eine Manövriermasse, die zwar bemerkt, daß das Lagerregiment wechseln soll, aber darauf selbst keinen Einfluß hat. Die Rechtlosigkeit äußerte sich auch ökonomisch, indem die Kosovo-Albaner, die in Gastfamilien unterkamen, finanziell nicht selten ausgepreßt wurden. Während beispielsweise der Bürgermeister von Peqin monatlich DM 150 Gehalt bekommt und der einfache Polizeibeamte rund DM 80 verdient, bezahlte häufig eine kosovarische Familie für ein Zimmer DM 300 bis 400. Die Rechtlosigkeit findet ihren nächsten Ausdruck in der fehlenden Sicherheit. Das Lager in Peqin war zwar von albanischen Sicherheitskräften bewacht, allerdings fehlten sie systematisch nachts in den Wochen nach der vereinbarten Feuerpause zwischen NATO und Serbien, als in Peqin einige junge Mutterlandalbaner das Lager überfielen, Kosovaren im Lager zusammenschlugen und Hilfsgüter stahlen. Aber auch von der knapp 150 Mann starken internationalen Polizeitruppe der EU gab es nur geringe Unterstützung für die Aufrechterhaltung der Sicherheit, noch weniger von den NATO-Streitkräften, die auf Anfrage mitteilten, dafür kein Mandat zu haben (eine positive Ausnahme bildete in den letzten Tage die französische Militärpolizei). Die Rechtlosigkeit und das Ausgeliefert-Sein zeigte sich besonders an der Situation von Frauen, die im Extremfall - wie bei vier jungen kosovarischen Frauen aus benachbarten Lagern nach einem hartnäckig sich haltenden Bericht - verschwunden und vermutlich an griechische und italienische Bordelle verkauft wurden oder unverhofft mit der Botschaft konfrontiert wurden (so in unserem Lager), daß fremde Männer im Lager aufgetaucht sind, die nach Frauen Ausschau halten.

Auch die innenpolitische Instrumentalisierung der Flüchtlinge - insbesondere von Berisha - erschwerte die psychosoziale Arbeit im Camp. Berisha, der wohl sein politisches Comeback über die Flüchtlingsthematik versuchte, besuchte Mitte Juni das Lager in Peqin. Einige besonders einflußreiche lokale Parteigänger von Berisha verlangten von der kosovarischen Lagerleitung (insbesondere von ihrem Vorsitzenden, der zugleich mein Vertreter in unserem Projekt war), einen begeisternden Empfang für Berisha zu organisieren. Von diesem Besuch Berishas ging ein deutlich politisch konfrontativer Einfluß auf die soziale Lagerstruktur aus. Seit diesem Zeitpunkt spitzten sich im Lager die politischen Auseinandersetzungen zu, die Differenzen unter den Kosovaren wurden stärker. Zusammen mit dem Wunsch auf eine baldige und nun mögliche Rückkehr in den Kosovo verstärkten sich zeitgleich die Orientierungen auf den eigenen Weg im Kosovo: Während über zwei Monate im Lager unter den Kosovaren nur geringe Unterschiede zu bestehen schienen (»Wir sind alle gleich, wir sind Flüchtlinge, die überlebt haben.«) nahmen nun die Auseinandersetzungen um Politik und Geld zu. Die soziale Lagerstruktur drohte in den letzen zwei Wochen zusammenzubrechen.

Das damit skizzierte Sicherheitsproblem ist nun gewiß kein »albanisches« Problem, sondern ein Mangel, den die intervenierende »Staatengemeinschaft« produziert hat. Die mangelnde Vorbereitung auf die Hunderttausenden von Flüchtlingen, die eben auch die Sicherheit der Flüchtlinge und sofort greifende infrastrukturelle Hilfsmaßnahmen, großzügige Aufbauhilfen hätte umfassen müssen, mußte die albanischen Behörden vor Ort gemeinsam mit der Bevölkerung kompensieren.

Ein Aspekt unserer Arbeit betraf immer auch die Vorbereitung auf die Rückkehr in den Kosovo. So auch bei dem auftauchenden Spielwunsch männlicher Kinder, Bomben auf Belgrad zu werfen. Meine kosovarischen Kollegen meinten, daß dieses Spiel doch zu weit gehen würde, und »irgendwie« die Kinder davon abgebracht werden müßten (zum Beispiel mit den Erklärungen, daß die Kinder in Belgrad doch nichts dafür könnten, daß sie, die Kosovar-Albaner, vertrieben worden sind, und diese serbischen Kinder würden doch auch von den Bomben getroffen werden). Dieser gut gemeinte Vorschlag hatte einige Nachteile, denn er stand im Gegensatz zu dem, was ein Teil meiner Kollegen sonst vertrat, daß nämlich die NATO-Bomben auf Belgrad zu begrüßen sind. Und ferner war zu diesem Zeitpunkt das allgemein geförderte Vorbild der Jugend und der Kinder der UÇK Soldat, der sich mit dem Gewehr in der Hand für die Befreiung der Heimat, den Kosovo, aufopfert. Wir waren mit diesem Spielwunsch der Kinder mitten in der politischen Auseinandersetzung und bei der Frage angelangt, welche Schlußfolgerungen diese Jugendlichen praktisch aus ihrer Vertreibung ziehen. Zugleich bündelten sich in ihrem Spielvorschlag Fragen der Rückkehr in den Kosovo in der zugespitzten Form, welche Gefühle und Einstellungen gegenüber den Serben im Kosovo vorbereitet sind und werden. Themen der Gerechtigkeit, der Schuld und der mächtige nachtragende Effekt der Rache, der Bewältigung von Ohnmacht und Verletzung meldeten sich alle zusammen in ihrem Spielwunsch. Die Jugendlichen hatten mit ihrem Vorschlag nahezu alle bedeutsamen Fragen in diesem Wunsch zusammengezogen. Nach ausführlicher Diskussion unserer Reaktionen auf diese Absicht der Kinder schlug ich vor, den Inhalt der Bomben und den Akt des Bombenwerfens zuerst zu entsymbolisieren, um zu erfahren, für welche Gefühle die Bomben und das Bombenwerfen stehen und diese dann erneut zu symbolisieren, so daß für diese verdeckten Gefühle ein direkter Ausdruck möglich ist. Es käme also nicht darauf an, ob wir mit den Kindern Bombenwerfen spielen, weil wir daran gar nicht vorbei gehen dürften und sie dies mit oder ohne uns spielen konnten, sondern darauf, womit wir die Bomben füllen - mit symbolisiertem Sprengstoff (wie es die Jugendlichen wollten) oder zum Beispiel mit wirklichen Tränen, die in eine symbolische Bombe gesteckt werden. Tränen, die nicht oder nicht mehr geweint werden, und gerade deswegen sich zur Rache verwandeln. Kurz: Wir erarbeiteten ein psychodramatisches Stehgreifspiel, Bomben mit Tränen zu füllen.

Das äußere Arrangement sah einen Kreis vor, in dem die Jugendlichen sitzen oder stehen. Die Mitte des Kreises füllt die imaginierte Bombe. Jeder und jede, die wollen, geben etwas von sich in die Bombe: Tränen, Wünsche oder bedeutungsvolle Gegenstände. Wer etwas in die Bombe tut, erläutert der Gruppe, was er oder sie hineingetan hat. Diese »Erläuterung« konnte aus einem Wort bestehen, aus einer Geste oder dem Spiel einer kleinen Szene, wofür beispielsweise eine Träne steht. In diesem Teil des Spiels ging es darum, Haß und Aggression psychodramatisch wieder in Verbindung mit jenen Gefühlen und Erfahrungen (wie Ängste, Verletzungen, Erniedrigungen) zu bringen, aus denen sie entstanden sind. Wenn bisher nicht geweinte Tränen fließen, erfolgt natürlich eine starke Konfrontation mit den traumatisierenden Erfahrungen; sie erfolgt in der Gemeinsamkeit der Gruppe, gleichsam im kollektiven Schicksal. In diesem Teil des Spiels also sind als wesentliche Elemente enthalten:

  • Den Jugendlichen wird eine Auseinandersetzung mit ihren aggressiven Gefühlen auf der Ebene ihrer traumatischen Erfahrungen ermöglicht,
  • Die durch die Art des Spiels nahegelegte Reaktion auf die traumatischen Erfahrungen, die Träne, hat bereits eine erste karthartische Funktion.
  • Die Gemeinsamkeit und Verbundenheit im Erlittenen wird betont,
  • Die Einzigartigkeit der traumatischen Erfahrung kann durch die gemeinsame Verbundenheit ertragen werden (Ausbildung von Frustrationstoleranz und Ich-Stärke).
  • Eingeleitet wird auch eine Auseinandersetzung mit den Objekten von Haß und Aggression, den Serben, hier allerdings nur auf der kollektiven Ebene, den Serben als Ethnie. Die, die »ich« vernichten will, fühlen sich anders an als diejenigen, denen »ich« etwas mitteile. Und wenn ich ihnen mitteile, daß »ich« verzweifelt und allein, verletzt und gedemütigt bin, dann vernichte ich sie nicht, sondern eröffne einen Dialog, der Verständigung zum Ziel hat. Aus der Bombe der Zerstörung wird eine Rakete der Verständigung. Die aggressive Form der Bombe bewahrt das aggressive Gefühl, das durch den Inhalt der Bombe nicht zurückgenommen, aber in den Dienst der Verständigung gestellt wird.
  • Das Vorbild, der bewaffnete UÇK-Soldat, erhält mit diesem Spiel eine große Konkurrenz. Wenn jedes Kind eine Träne darstellt und in seiner Darstellung für einen kurzen Moment die Träne schließlich personifiziert und sie ist, dann kann ein neues Vorbild entstehen, weil sich ein mit dem alten Leitbild nicht kompatibles Bedürfnis nach Trost einstellt. Im Übergang von der Rache zur Träne wird dem Soldaten das Gewehr aus der Hand genommen.
Im zweiten Teil des Spiels, nachdem die imaginäre Bombe mit Realem gefüllt ist, fassen sich die Gruppenmitglieder an den Händen und werfen unter lauten Gejohle die Bombe, die wir nun auch die Rakete von Peqin nannten, in die Luft und beobachten ihre Flugbahn. Dieser letzte Teil steht also unter dem Zeichen der Befreiung und der Katharsis. Die Katharsis deutete sich im Geschrei an, unter dem die Rakete gezündet wurde; die johlende Ausgelassenheit wurde um so größer, je mehr Tränen die Gruppe in die Rakete gesteckt hatte, die nun gezündet wurde. Die Befreiung liegt darin, daß sich von der Träne verabschiedet wird, nachdem sie gezeigt wurde. Es sind »meine« Gefühle, die »ich« nun in die Luft werfe und von denen »ich« mich jetzt trenne. Es sind zwei fundamentale Gefühle der Verbundenheit, die in diesem Spiel ihren Ausdruck finden. Das gemeinsame Weinen und das gemeinsame Lachen als Folge der gemeinsamen Tränen.

Zugleich legten die Kinder mit diesem zweiten Teil Zeugenschaft über das Erlittene gegenüber unbekannten Adressaten in unbekannter Anzahl ab. Die Tränen wurden nicht mehr nur nach Belgrad geschickt, sondern zu vielen anderen Städten.

Solche psychodramatischen Inszenierungen unterstützen auch das Bemühen, daß kollektive Opfererfahrungen nicht zu einem kollektiven Mythos stilisiert werden (wie auf Seiten der Serben mit der Amselfelderzählung), die dazu verleiten können, sich immer noch als Opfer zu fühlen, wenn man bereits als Täter andere zu seinen Opfern macht.

Was bleibt von solchen Erfahrungen wie jenen aus der Arbeit und dem Leben im Lager Peqin? Vor allem der Respekt gegenüber den vielen engagierten Mutterlandalbanern, die unter schwierigsten Bedingungen mit der seit dem Ende des zweiten Weltkriegs einzigartigen Situation in Europa konfrontiert wurden, daß auf sechs Staatsbürger ein Flüchtling aufgenommen wurde. Und die Bewunderung für die Kosovo Albaner, denen die Vertreibung und Erniedrigung nicht das Rückrat und die Lebenslust zerstört haben. Und die Erkenntnis: Diese Zusammenarbeit mit Albanern ist derart kreativ und lebendig, daß sie fortgesetzt werden muß.

Prof. Dr. Michael Waldow, Studiengang Kommunikationspsychologie, Hochschule Zittau/Görlitz (FH), Leiter des ASB Projekts »Psychosoziale Arbeit mit traumatisierten Kindern im Camp Peqin«


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