Albanische Einwanderer in Italien sind nichts Neues: Ein Besuch in Italiens albanischen Dörfern
Seit Jahrhunderten leben Albaner in Kalabrien. Sie helfen den heutigen Flüchtlingen - und mißtrauen ihnen
Antonella Romeo
Vor Jahren trug Don Vincenzo Selvaggi noch eine wilde schwarzgelockte Mähne, die sich von seinem kalimafi, dem Amtshut, kaum bändigen ließ. Inzwischen hat der papas auch an Stimme verloren, ein echtes Unglück, weil er in seiner Kirche Santa Maria di Costantinopoli den Gottesdienst nach der byzantinischen Liturgie zelebriert, also singt.
Don Vincenzo kommt nicht aus Vaccarizzo Albanese, aber er hat hier das ganze Leben verbracht. Er scheint in einer anderen Welt versunken zu sein, wirkt abwesend, nicht wie ein Mystiker, eher wie einer, dem das Leben langweilig geworden ist und der in der Ironie Zuflucht nimmt.
"Es gibt eine Unannehmlichkeit", sagt er an jenem kalten Nachmittag im April. Gerade war er aus dem tausend Kurven entfernten Lungro heimgekehrt, wo er mit dem eparca, seinem Bischof, über die Unterbringung der vielen albanischen Flüchtlinge beraten hatte. Und nun diese "Unannehmlichkeit": der Tod einer alten Frau, deren Haus auf dem Berg zur Segnung erreicht werden muß.
Don Vincenzo und sein Kollege, der papas im Ruhestand Francesco Vecchio, sind sehr froh, daß ihnen eine Fahrt mit dem Auto angeboten wird. Sie steigen mit Paramenten und stark duftendem Weihrauchfaß ein, dessen Glöckchen die Unebenheit der Straße betonen.
"Weißt du, warum es diese Glöckchen gibt?" fragt Don Vincenzo die Fahrerin. "Weil die religiösen Zeremonien in den alten Klostern stundenlang dauerten und man ab und zu die Mönche aufwecken mußte."
Vaccarizzo Albanese, San Giorgio Albanese und San Cosmo Albanese liegen in Süditalien, oder besser gesagt: stehen. Stehen auf benachbarten Hügeln in Kalabrien und gucken rechts auf das Ionische Meer und links auf den Appennino Calabrese, dessen Gipfel in diesem Frühling schneebedeckt sind. Der Blick von hier oben gleitet über grüngepunktete Hügel: Olivenbäume, die auf ihren silbernen Blättern das Blau des Himmels reflektieren, und, weiter zur Küste hin, Orangenbäume mit ihrer dunklen, runden Krone.
Wer die Dörfer auf den Vorbergen der Sila Greca mit einem Bus von der Küste aus erreicht, reibt sich unterwegs die Ohren. Die Passaggiere sprechen weder Italienisch noch einen der vielen kalabrischen Dialekte, sondern Albanisch. Vaccarizzo, San Giorgio und San Cosmo heißen mit Nachnamen "Albanese", und die meisten ihrer Einwohner tragen Namen wie Scura, Tocci, Staffa, Cucci, Sula, Ligori . . . Sie sind die Nachkommen albanischer Flüchtlinge, die von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nach Süditalien strömten, wo sie mal den Osmanen zu entkommen suchten, mal der wirtschaftlichen Not.
Einige wurden von feudalen Herren als Soldaten engagiert, die meisten arbeiteten als Bauern, als Sklaven des Landes. Sie mußten zusammenhalten, um die Feindseligkeit der alteingesessenen Herren und ihrer Untertanen überstehen zu können. Noch heute gibt es in Kalabrien ein populäres Sprichwort: "Wenn du einen Wolf und einen Albaner siehst, töte zuerst den Albaner."
An die siebzig Dörfer in Süditalien haben albanische Wurzeln. Hier wird heute vor allem Arbresh, Albanisch, gesprochen. "Arber" nannte sich vor Jahrhunderten Mittelalbanien. In vielen Dorfkirchen wird noch die byzantinische Liturgie zelebriert, und der papas singt griechisch und albanisch. Die Glaubenslehre gleicht der katholischen, die Spiritualität und der Ritus unterscheiden sich. In Kalabrien hat sich diese Tradition besonders erhalten.
Auf 200 000 wird die Zahl der Italo-Albaner geschätzt. Seit Jahrhunderten leben sie über sechs Regionen verstreut. Die große Süd-Nord-Wanderung der Arbeitskräfte nach dem Zweiten Weltkrieg hat ihre Gemeinschaft einerseits weiter zersplittert, in einigen großen Städten aber auch neu geschaffen. Allein in Mailand sollen 30 000 Arbresh leben.
Zot, Herr, wird Don Vincenzo auf der Straße angesprochen. Im Dorf unterwegs grüßt er mit Worten, die den Staub und den Charme der Jahrhunderte haben, wie die Steine der Häuser und Paläste des centro storico, von denen viele leer stehen. Vierhundert verrammelte Türen sollen es in Vaccarizzo sein. 1947 hatte das Dorf noch 2200 Einwohner. Heute sind es 1400. Die Fortgegangenen haben Italienisch oder Deutsch gelernt und versuchen nun im Norden ihr Glück zu machen.
Der Arbresh-Sprache, die fast ausschließlich mündlich überliefert ist, droht das Schicksal der alten Häuser im Dorf. Noch ist sie die Säule einer aussterbenden Kultur, aber mehr und mehr wird sie zu einer Ruine, die langsam verfällt.
Das Schild, das den Weg zur Schule weist, ist zweisprachig, aber in der shkolla wird kein Albanisch unterrichtet. Die Schüler der dritten Klasse, Dreizehnjährige, finden das schade. Gern würden sie Albanisch-Stunden nehmen. Vielen ist Arbresh die Muttersprache gewesen, wenige reden es noch.
Als Albanien 1912 unabhängig wurde, gab es dort Bücher auf lateinisch, auf griechisch und auf arabisch, je nachdem, ob die Schriftsteller katholisch, orthodox oder islamisch waren. Der neue Staat mußte sich eine Sprache geben und wählte Arbresh.
Francesco Marchianó, 42 Jahre alt, der professore von Vaccarizzo, kennt sich mit dieser Geschichte sehr gut aus. Er stammt aus einer albanischen Familie, hat ein Diplom für Albanische Literatur, unterrichtet zwei Tage in der Woche Französisch im Dorf. Jeden Donnerstagabend bleibt er, der in Spezzano Albanese lebt, in Vaccarizzo und besucht den zot. Der professore sieht sich in der Speisekammer des papas um und kocht für beide. Und dann reden sie. Über das Schicksal der Arbresh-Kultur. Oder über die Albaner, die heute nach Italien flüchten.
"Die Albaner, die 1991/92 in diese Dörfer kamen, haben es leicht gehabt", erzählt Francesco Marchianó. "Wir sprechen die gleiche Sprache, wir haben die gleichen Namen - viele Leute fühlten sich verpflichtet, ihnen zu helfen."
Was noch haben die etablierten und die zugewanderten Albaner gemeinsam? "Den Sinn für das Leid", sagt der professore, "sie beweinen ihre Toten genau wie wir. Und den Stolz. Sie verhungern, aber sie behaupten, satt zu sein."
Um die Albaner zu verstehen, müsse man in Albanien gewesen sein, fährt Marchianó fort. Wie er 1979 und 1986. Fünf Jahrhunderte türkischer Herrschaft und Jahrzehnte des Kommunismus hätten Albanien den Analphabetismus gebracht und eine orientalische Mentalität. "Die Albaner", erzählt der professore, "mögen den leichten Gewinn, der nicht mit Landwirtschaft zu erreichen ist, sondern mit Geschäften. Viele Männer lehnen die Arbeit ab und schicken die Frauen auf den Strich."
Francesco Marchianó zählt zu denen, die sich - meist in kirchlichen Gruppen organisiert - für die Flüchtlinge der vergangenen Jahre eingesetzt haben. Wie viele Anträge auf politisches Asyl habe er auszufüllen geholfen, aber nicht einem sei stattgegeben worden. Der italienische Staat schickte einige Flüchtlinge zurück, Tausende blieben und mußten - als Illegale - selber sehen, wie sie zurechtkamen. Sie brauchten alles, ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen, Kleidung und vor allem Arbeit.
Das neueste Gesetz zum Umgang mit illegalen Einwanderern stammt vom Ende des vergangenen Jahres. Wer vor November 1995 ins Land gekommen ist und nachweist, sechs Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen zu sein, kann eine Aufenthaltserlaubnis für sechs oder zwölf Monate bekommen. Alle paar Jahre verabschiedet die Regierung so ein Gesetz. Einwanderungspolitik auf italienisch.
Schmerzhaft erinnert sich der professore, wie die ersten Albaner die Regeln ihrer neuen Heimat nicht akzeptiert hätten, weil sie selber ohne Regeln in Albanien lebten. Jene Familien von Spezzano Albanese, die sich gastfreundlich zeigten, nahmen es den Fremden übel, daß sie nicht rechtzeitig zu den Mahlzeiten kamen oder nach Gebrauch die Toilette nicht spülten.
Viele Verhaltensweisen der Albaner blieben ihren Gastgebern rätselhaft, so zum Beispiel, wenn sie stundenlang die Tür des Kühlschranks auf- und zumachten oder immer wieder nach den Preisen von Autos und Elektrogeräten fragten.
"1991/92 kamen täglich welche", erinnert sich Francesco Curto, Bürgermeister von Vaccarizzo. Die Wand hinter seinem Schreibtisch schmückt der Kopf von Ché Guevara und ein Zitat von Bertolt Brecht. Im Dorf erzählt man, daß der Bürgermeister, Mitglied der Rifondazione Comunista, die ersten Albaner nicht mochte, weil sie gegen die Kommunisten waren. Später übte er sich darin, sie als Verführte Berlusconis zu sehen, dessen Privatfernsehen bis nach Albanien ausstrahlt. Heute preist Francesco Curto die Gastfreundschaft seines Dorfes, das zur Zeit über dreißig Albaner beherbergt drei Prozent der Bevölkerung.
Privatleute vermieten den Zugezogenen ihre Häuser, aber "selbstverständlich ohne Verträge", sagt der Bürgermeister. "Mietverträge gibt es sowieso nirgendwo in Italien", fügt er mit einer gewissen Übertreibung hinzu.
Die meisten Albaner arbeiten auf dem Land, wo Familienbetriebe Oliven und Orangen anbauen. Sie bekommen zwischen 35 und 40 Mark pro Tag, ungefähr so viel wie die Italiener. Selbst der Bürgermeister, der 200 Olivenbäume besitzt, beschäftigt Albaner als Saisonkräfte. "Wenn ich feste Landarbeiter beschäftigen würde, wären die Produktionskosten höher als der Gewinn", erklärt er.
Der Bürgermeister gibt zu, daß sich die Kommune eine bessere Integration gewünscht hätte: "Sie bleiben immer unter sich, isoliert." Nach der Erntezeit kommt mit der Arbeitslosigkeit regelmäßig der Ärger: Dann verschwindet Federvieh oder Brennholz, und einige Wohnungen werden verlassen, ohne daß die Miete bezahlt worden wäre.
Marisa Vecchio, 23, Kulturreferentin von Vaccarizzo, führt mit Begeisterung durch das Museum albanischer Trachten, das in einem wunderschönen alten Palast mitten im Dorf eingerichtet ist. Sie kann albanisch sprechen, und sie ist stolz auf ihre Arbresh-Kultur. "Ich werde die Sprache und die Geschichte meinen Kindern beibringen", sagt sie. Auch sie hat sich für die Flüchtlinge engagiert, auch sie ist enttäuscht worden. "Manchmal denke ich, ich werde niemandem mehr helfen."
Gespendete Lebensmittel seien weggeworfen worden; keinen Besen dürfe man mehr vor die Tür stellen, keine Wäsche auf der Leine hängen lassen - es würde oft geklaut. Albaner hätten die Duschen auf dem Fußballplatz beschädigt und Privathäuser regelrecht verwüstet.
Eine, die den Flüchtlingen vor zwei Jahren ein Haus überließ, war Tommasina Sposato. Sie ist eine alte Frau, deren Kinder und Enkelkinder in der Schweiz leben. Das Haus war ziemlich heruntergekommen, aber immerhin gab es Dusche und Wanne, wovon auch Flüchtlinge Gebrauch machten, die dort nicht wohnten. Kürzlich haben sich die Mieter von Tommasina über Nacht abgesetzt, und sie blieb auf der Wasserrechnung von umgerechnet 800 Mark sitzen.
"Als die ersten Flüchtlinge kamen, gab es hier ein anderes Klima", sagt Don Vincenzo. "Den Einheimischen waren die Albaner eine enorme Hilfe, ohne die es keine Orangen- und Olivenernte mehr gegeben hätte." Einige Arbeitgeber hätten die Albaner mittags mit zu sich nach Hause genommen und ihnen am Ende des Monats wegen jener Nudelteller nur die Hälfte des Versprochenen ausbezahlt.
Der zot bekommt viele Anrufe von Leuten, die eine Albanerin für die Pflege von Familienangehörigen suchen. Aber die Flüchtlinge sind hauptsächlich alleinstehende Männer.
Gründungen von gemischten Familien gibt es kaum. Eine Albanerin hat einen älteren Witwer des Ortes geheiratet, dessen Bild sie zuerst in Albanien sah, nachdem eine Cousine von ihr, die schon in Kalabrien wohnte, von ihm den Auftrag bekommen hatte, für ihn eine Frau zu finden.
Zu den wenigen Neuankömmlingen, die bereit sind, Auskunft zu geben, zählt Linda Faraco. Heute ist sie 23, aber sie war noch minderjährig, als sie aus Albanien kam, um ihren Bruder in San Giorgio zu finden. Jetzt ist sie mit einem jungen Mann aus Vaccarizzo verheiratet und hat eine einjährige Tochter. Das Haus, in dem sie wohnt, ist neu. Im Erdgeschoß eine riesige Wohnküche mit Kamin und billigen Möbeln. Ein Fernseher mit XXL-Bildschirm läuft, obwohl nur die kleine Lul— ihn wahrzunehmen scheint. Der Besucherin wird Cola eingeschenkt.
Die Familie des Mannes besitzt eine Spinnerei, und seit kurzem ist sie dort als Arbeiterin beschäftigt. Keine Frau des Dorfes hätte eine solche Tätigkeit akzeptiert. Aber Linda gefiel es in der Fabrik, und sie war damit einverstanden, daß die Schwiegermutter sich um die Kleine kümmert.
Linda Faraco möchte unbedingt den Rest des Hauses zeigen. Die Treppe hoch, und da ist die eigentliche Wohnung: fürstliche Einrichtung, Fußboden und Bäder mit besten Fliesen, von der Terrasse geht der Blick in die Olivenbäume. Alle Fensterläden sind geschlossen. Im Winter wohnt man unten, damit das Heizen die Wände und die Möbel nicht unnötig verrußt.
Auf dem Weg zurück zum centro storico kommt gerade der Trauerzug für die vor drei Tagen gestorbene alte Frau vorbei. Don Vincenzo und Don Francesco führen die Prozession mit Weihrauch und Glöckchen. Eine Kapelle macht Musik. Hunderte Leute drängen am Rand der Straße.
Die alte Frau muß im Dorf ziemlich beliebt gewesen sein? Nein, erläutert später der professore. Die Leute seien vor allem gekommen, um die Musik zu hören. Es habe sich nämlich um die Kapelle des Nachbardorfes gehandelt, und so könne man sich abends - wenn sie wieder fort ist - zusammensetzen, um ihrem Spiel allerlei Übles nachzusagen.
..sooo doof kann ich doch nicht sein oder !? ...es gibt wohl nicht sehr viele schweizer die sich wirklich für die kultur der albaner interessieren wie ich es tue !!