Estra hat geschrieben:ich seh denn Fall durchaus nicht mit Kälte und Distanz an, manchmal denk ich leider, weil es mich bis weit in den Alltag verfolgt, je nachdem was ich hier wieder gelesen habe. Ich schau Besarta mit den Augen einer Mutter an, weil ich selber Mutter bin und wenn nur schon der Verdacht besteht, dass diesem Mädchen solches Leid zugefügt wurde, bricht mir das Herz. Mir nur vorzustellen wie hilflos sie sich vorgekommen sein muss, wenn die Mutter davon wusste und auch sie auch körperlich misshandelt haben sollte, macht mich krank. Ich habe leider zu wenig Distanz sonst würd mir das ganze auch nicht so nahe gehen, dass ich manchmal bei diesem Thema auch emozional werde
WENN Besarta zu Hause wirklich so viel Leid erfahren musste, und das beziehe ich auf den Vorwurf bezüglich der sexuellen Misshandlung seitens des Vaters und der Mitwirkung bzw. Verschweigen der Mutter, dann bricht mir das natürlich auch das Herz und ich kann mich nur wiederholen, wenn sich das damals wirklich so zugetragen hat, dann bin ich die Erste, die diesen Mann dafür verurteilt. Vergewaltigung ist für mich persönlich mit keiner anderen Straftat zu messen, ich bewerte sie schlimmer als einen Mord und einem Mädchen könnte nichts schrecklicheres als das wiederfahren, was Besarta Gecaj erlebt haben soll.
ABER daran zweifle ich. Besarta wurde sehr streng erzogen, so hieß es auch überall in den Medien. Ihr Vater war sicher ein konservativer und traditioneller Mann, erlaubte Besarta nicht die Dinge, mit denen ihre schweizer Freundinnen aufwachsen durften. Sie hatte viele Verbote zu ertragen, die in dem neuen Land eigentlich eine Selbstverständlichkeit darstellten. Ich denke auch, dass ihr Vater sich bestimmt konservativen Methoden bedient hat, um das zu erreichen, wie zB Schläge, was eine körperliche Misshandlung ist. Vielleicht hat sich auch ihre Mutter der Schläge als erzieherische Maßnahme bedient, und dann sicher nicht nur bei Besarta, sondern auch bei ihren Brüdern. Vielleicht schlugen sie, weil sie sich nicht anders zu helfen wussten, weil sie sahen, wie sich der Charakter ihrer Tochter entwickelt und das verhindern wollten. Ich glaube, Besarta sehnte sich nach einem freien und freizügigen Leben, das sie von ihren schweizer Freundinnen kannte, aber niemals selber in dessen Genuss kommen durfte, weil es die albanischen Traditionen verbieten und ihre Eltern missbilligten. Sie litt bestimmt auch unter dieser traditionellen Erziehung in dieser modernen Welt, hat psychisch sehr viel runter schlucken müssen, vielleicht wurde für sie jeder Tag zu einem Kampf, ein Kampf des Ertragens, des Duldens, der Depression.
Und ich glaube, wenn dann in dieser seelischen Verfassung, in welcher sich die damals noch 14-Jährige Besarta zu Hause als eine Gefangene fühlt und von der westlichen Freiheit und Freizügigkeit träumt, jemand zu ihr kommt und ihr verspricht, dass sie nie wieder ertragen muss, dass sie nie wieder geschlagen wird, dass ihr Vater ein Mörder ist, wenn da jemand kommt und ihr das Leben verspricht, wo von sie seit langem träumt, dann würde sie dafür einfach alles tun, auch lügen ...
DENN das würde letztlich sehr vieles erklären, wenn nicht sogar alles ... Wieso der Vater glaubte, der Lehrer habe sie vergewaltigt; wieso gesagt wird, dass der Lehrer Besarta helfen wollte; wieso sie sich zu Hause nicht wohl fühlte; wieso sie ihre Familie verließ; wieso sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie wünscht und sich noch nicht mal für einen kleinen Anruf als Lebenszeichen bereit erklärt. Wieso so einer eigentlich doch offensichtliche Geschichte zwei Versionen anhaften, die beide auf ihre Weise ihre logische und einzigst richtige Wahrheit erzählen. Dies erklärt auch, wieso die Familie immernoch zu dem Familienvater hält; wieso auch die Mutter verurteilt wurde und ganz besonders: Wieso Besarta´s Familie immernoch um ihre verlorene Tochter trauert; wieso kein Tag vergeht, an dem sie nicht an sie denken, um sie weinen, sie vermissen ... Wieso der Bruder sagte: "Meine Schwester muss wissen, dass die Schweiz sie nicht mehr lieben kann, als ihre Familie" ... und wieso er davon ausgeht, dass sie jetzt unter Druck gesetzt wird.
Ich bin selber eine junge albanische Frau, ich bin nur wenige Jahre jünger als es Besarta jetzt ist und auch ich wurde und werde von meinen Eltern traditionell erzogen. Im Gegensatz zu Besarta, empfinde ich die Erziehung meiner Eltern nicht als Zwang. Im Gegensatz zu Besarta bin und war ich immer zufrieden damit. Denn im Gegensatz zu Besarta reizte mich nie der verbotene Apfel, der am fremden Baum in einem fremden Land wächst ... Ich bin deswegen noch nie in meinem Leben von meinen Eltern geschlagen worden. Kein einziges Mal wurde in meinem Leben in meiner Familie die Hand gegen mich erhoben und wir sind eine sehr traditionelle Familie und ich habe neben meinem Vater noch zwei traditionelle Brüder.
ABER, wenn ich nicht selber meine Heimat von ganzem Herzen lieben würde, wie ich es tue; wenn ich meine albanische Kultur und meine albanischen Traditionen nicht selber so sehr verehren und respektieren würde, wie ich es tue; wenn ich nicht selber diesen Stolz in mir tragen würde, stolz darauf eine Albanerin zu sein, stolz darauf, traditionell erzogen worden und traditionell zu sein, stolz darauf hier zu leben, aber nicht so zu leben wie ihr (das ist nicht als Beleidigung gemeint!), ...
DANN würde ich mich wie ein Vogel in einem goldenen Käfig fühlen, in dem ich jede Sekunde davon träumen würde davon zu fliegen ...
Und ich denke, genau das wollte Besarta. Sie wollte ausbrechen. Sie wollte weg, fliehen, ihren Verpflichtungen, die die Traditionen einem albanischen Mädchen auferlegen, entkommen.
DENN Besarta war kein Mädchen, das ihre Heimat von ganzem Herzen liebte, sie verehrte und respektierte ihre albanische Kultur, ihre albanischen Traditionen, ihre Herkunft nicht, sie trug nicht diesen Stolz in sich, diesen Stolz darauf was du bist und woher du kommst, diesen Stolz auf deine Herkunft, auf dein Volk, auf deine Wurzeln, dein Blut, deine Identität.
Besarta war ein Mädchen, das aus ihrem Fenster in der modernen und liberalen Schweiz schaute und eine junge Frau im Minirock beneidete.
Woher ich das weiß?
WEIL die Welt untergehen könnte, und das von mir aus 100 Mal nacheinander, jeder Bewohner Deutschlands, von mir aus sogar jeder Bewohner dieser Erde sich auf den Kopf stellen könnte, alles in ihrer Macht stehende versuchen und tun, sich Drohungen, Flehen und Bitten bedienen, NIEMAND könnte mich jemals dazu kriegen meine Identität und meinen albanischen Namen zu ändern. NIEMAND. Mal abgesehen davon, dass ich meine Familie, vorne an meine Mutter, niemals aus meinem Leben streichen könnte. Ich könnte keinen Tag länger atmen, wenn ich wüsste, dass ich sie irgendwo mit den Scherben ihres zerbrochenen Herzens zurück gelassen habe, wo sie um mich weint und sich nach ihrer Tochter sehnt. Selbst wenn meine Mutter mir jeden Tag eine gebrettert hätte.
ABER Besarta hat das zugelassen, Besarta hat das selber gewollt. Weil Besarta nicht wusste und es ihr vielleicht sogar egal war, welche Bedeutung und welche Konsequenzen das für sie hat, solange sie einfach endlich eine "Schweizerin" ist.
Und Besarta meldet sich heute nicht bei ihrer Familie, weil zu viel auf dem Spiel steht, weil sie zu viel riskieren würde, weil sie Angst hat, vielleicht auch, weil sie ganz einfach nicht will.
Vielleicht aber auch, weil sie kein Gesicht mehr besitzt, weil sie ihrer Familie nicht unter die Augen treten kann, vielleicht, weil die Schweiz ihr einen neuen Namen und eine neue Zugehörigkeit gegeben hat, aber sie dennoch nicht verhindern konnte, dass sie jeden Morgen, wenn sie in den Spiegel schaut, trotz neuer Identität, in die Augen von
Besarta Gecaj blickt ...
... Jeder Gewinn, der Ehre kostet, ist ein Verlust ...
... Eine handvoll Heimaterde ist mehr wert als zehntausend Pfund fremden Goldes ...
... Nicht wo du die Bäume kennst, sondern wo die Bäume dich kennen, ist deine Heimat ...