In Albanien fallen immer mehr Menschen der Blutrache zum Opfer – auch der Vater, der Onkel und die Tante von Gert wurden ermordet. Seine Großeltern hoffen nun, dass der Junge die Familienehre wiederherstellt.
Wann wird ein Junge zum Mann? In Albanien sagen manche: mit zwölf Jahren.
»Ende Januar hat ein zwölfjähriger Junge in Shkoder seine Mutter erschossen«, erzählt die Großmutter Prenda Pepa. »Mit zwölf Jahren wird auch mein Enkel Gert alt genug sein, unsere Familienehre endlich zu sühnen.«
Gert spielt mit seinen Freunden auf der Straße. Seilspringen. Erst die Mädchen, dann die Jungen. Das Seil wirbelt Staub auf. Die Wege vor den zwei- und dreistöckigen Häusern sind nicht geteert. In den Häusern waren früher Wohnungen von Militärangehörigen. In den Neunzigerjahren löste die albanische Armee große Teile ihrer Verbände auf. Die Wohnungen hier in Shkoder standen eine Zeit lang leer. Dann kamen neue Bewohner, Menschen, die aus den Bergen in die zweitgrößte albanische Stadt im Norden zogen. Sie besetzten die Wohnungen. Der Staat duldet sie.
Gert ist neun Jahre alt und noch nennen ihn hier alle einfach nur Gerti. Das klingt nach einem kleinen Jungen, nach einer ganz normalen Kindheit auf dem Lande. Gerti: Schon sein Vater hat ihn so genannt. Gert mit einem harten Buchstaben am Ende, obwohl der Vater wahrscheinlich Gerd meinte, nach Gerd Müller. Dem Fußballspieler. In Albanien tragen viele Jungen die Namen deutscher Fußball-Weltmeister aus den Jahren 1974 oder 1990. Franz, Gerd, Uli, Jürgen. Aber so genau kann sich niemand mehr in Gerts Verwandtschaft an den Namenspatron erinnern. Hauptsache, ein Junge, dachten sie sich, gottlob kein Mädchen, denn deren Geburt wird in Albaniens Norden bisweilen noch immer als Unglück betrachtet. Manche Eltern nennen ihre Töchter dann »Sose«, das albanische Wort für »Ende«.
Gert und seine Familie leben mitten in Europa, eine gute Flugstunde südlich von München, umgeben von deutschen Ferienparadiesen. Dort unten liegt Albanien, das nach Moldawien zweitärmste Land des Kontinents, eingeklemmt zwischen dem Balkan und Griechenland, in seinem Nor-den menschenleer und abgehängt von der Moderne. Seit den Tagen, in denen Lord Byron den Ali Pasha hier besuchte, hat sich wenig verändert in dem kargen, faltigen Gebirge an der Grenze zu Montenegro und dem Kosovo. Exkremente schwimmen im Fluss, an der Straße zur Grenze nach Montenegro, entlang eines Sees, türmen sich Abfallberge. Zu kommunistischen Zeiten lag hier im Sperrgebiet unberührte Natur. Heute treiben Plastiktüten im See.
Obwohl die Geschichte von Gert und seiner Familie mitten in Europa spielt, scheinen ihre Handlung und die Protagonisten aus einer anderen Zeit als der unseren zu stammen. Es geht um Ehre und um Sühne, es geht um eine alte Frau und einen kleinen Jungen. Es geht um Blutrache.
Ende der Neunzigerjahre, als Tausende junge Albaner auf halb versunkenen Kähnen aus ihrer Heimat über das Adriatische Meer in Richtung Italien flüchteten, reisten zahlreiche Journalisten in die entgegengesetzte Richtung. In den albanischen Städten und Dörfern, in Durres und Tirana, in Shkoder und anderswo suchten sie nach den Ursachen für die Flucht derjenigen, die überhaupt noch fliehen konnten. Die Armut und die Hoffnungslosigkeit, das mangelnde Vertrauen in einen Staat, der keiner mehr war, hatte ein halbe Generation hinaus aufs offene Meer getrieben. Manche schafften es ins Exil, andere ertranken.
Immer wieder las man Geschichten von Menschen, die durch die Blutrache sterben mussten, nur weil einer ihrer Angehörigen einen anderen bespuckt oder belogen, eine Schuld nicht bezahlt, ein Versprechen nicht eingehalten hatte. Oft lagen die Gründe für die Rache mehr als fünfzig Jahre zurück, denn dem kommunistischen Regime Albaniens war es lange Zeit gelungen, die rechtlichen Traditionen im unwegsamen Norden des Landes zu unterdrücken: Die Machthaber ließen jeden, der dem Gesetz der Blutrache folgte, zum Tode verurteilen.
Doch zu Beginn der Neunzigerjahre kollabierte der Kommunismus und mit ihm die Autorität des albanischen Staatsapparates. Dann kam alles wieder: der alte Hass, die alten Konflikte, die alten Strafen und die Sanktionen. Bis heute leugnet die albanische Regierung die Rückkehr der Blutrache ins gesellschaftliche Leben des Landes. Doch die Zahl der Opfer wächst mit jedem Tag.
In Gerts Familie fehlt eine ganze Generation zwischen ihm und seiner Großmutter Prenda. Sein Vater, sein Onkel und seine Tante wurden ermordet. Gerts Vater, er hieß Kini, ist am längsten tot. So lange schon, dass sein Sohn sich nicht mehr an ihn erinnern kann. Als Kini erschossen wurde, war sein Junge gerade einmal ein Jahr auf der Welt. Auch an seine Tante und den Onkel hat Gert keine Erinnerungen, denn fünf Kugeln beendeten auch ihr Leben nur zwei Jahre später.
»Ich will den Tod meiner Kinder selbst rächen«, sagt Prenda. Sie ist vorsichtig bei ihrer Wortwahl, sie weiß genau, dass Blutrache im Rest Europas verpönt ist. »Nur im Notfall muss mein Gerti die Familienehre retten.« Prenda ist jetzt 64 Jahre alt, aber ihre tiefen Falten im Gesicht lassen sie älter aussehen. Prenda ist nicht groß, ihre Statur zerbrechlich. Die Großmutter, das wissen alle hier in der Stadt, wird in ihrem Leben niemanden mehr rächen. Sie weiß das selbst. Einer jungen Nachbarin hat sie erst jüngst erzählt, dass sie Gert schon vor einigen Jahren das Versprechen abgenommen hat, den Tod der Angehörigen zu rächen.
Tagsüber sammelt Prenda Blechdosen im Müll. Es gibt viel Müll auf den Straßen von Shkoder, der Industriestadt mit den inzwischen so vielen geschlossenen Fabriken, im Tal vor dem großen See und am Fuß der Berge, in denen der Winter hart ist und der Schnee oft bis Ende Mai liegen bleibt. Prenda presst ihre Dosen und Büchsen flach zusammen und bringt sie zum Schrotthändler. Auf zwei Tüten Dosen kommt sie so jede Woche. Dafür bekommt sie 2000 Lek, umgerechnet etwa 1,30 Euro, von denen sie, ihr bettlägeriger Mann Sef und der kleine Gert leben müssen. Ein Euro dreißig Cent reichen selbst in Albanien nur für ein wenig Brot.
Manchmal schenken ihr Nachbarn ein paar Münzen oder ein Stück Brot.
Einmal brachte auch der örtliche Imam ihr Lebensmittel vorbei, nachdem er vom Schicksal der Katholikin hörte. »Vier Liter Öl und je vier Kilo Reis und Zucker«, erinnert sich Prenda, »der Pfarrer brachte uns nichts.«
Prenda und ihr Mann müssen keine Miete zahlen. Wie alle hier im Viertel sind sie Hausbesetzer. Ein langer dunkler Flur, die Glühbirnen wurden aus den Fassungen gedreht. An der Tür kein Schloss. In jedes der drei Zimmer ihrer Wohnung regnet es herein. Es riecht feucht. Bettlaken auf dem Fußboden und über den wenigen Möbeln kaschieren die Löcher im Teppich und im Couchbezug. Im Wohnzimmer steht ein Fernsehgerät. An der Wand hängen Fotos von Prendas drei ermordeten Kindern neben einem Kreuz. In einer Ecke liegt Prendas Mann in seinem Bett. Sef ist 84 Jahre alt, er liegt im Sterben, und doch versteht er, dass seine Frau sich an diesem Sonntag jetzt nicht um ihn kümmern kann, sondern den fremden Gästen erklären muss, was Ehre in Albanien bedeutet und wozu sie die Überlebenden verpflichtet. »Natürlich bin ich dafür, dass Gert einmal die Blutrache aus-üben wird«, flüstert Gerts Großvater aus seinem Sterbebett heraus. Er selbst war dafür schon vor acht Jahren viel zu schwach.
Im Zimmer nebenan schlafen Prenda und ihr Enkel. Gemeinsam, in einem Ehebett. Es ist ein schmales Ehebett, nicht breiter als einen Meter zwanzig. Zwei Kopfkissen, eine gemeinsame große Wolldecke. Auf dem Nachttisch ein kleiner Fernseher und ein Wecker. »Gerti, wen hat man dir genommen?«, fragt Prenda ihren Enkel. »Meinen Vater, meinen Onkel, meine Tante«, antwortet Gert beinahe mechanisch. Der Junge weiß, was er zu sagen hat, und er weiß, was er zu tun haben wird. Wenn er einmal groß genug ist, in ein paar Jahren, mit zwölf. Gert weiß, dass seine Familie einst entehrt worden ist, er weiß von wem, Gert kennt die ganze Geschichte. Er hat sie sich wohl so viele Male vor dem Einschlafen anhören müssen, dass es kein Zweifeln gibt.
Die Tragödie der Familie begann in den Bergen im Norden Albaniens, dort wo auch vor mehr als 500 Jahren ein albanischer Nationalheld namens Leke Dukagjini ein Gewohnheitsrecht für die abgelegenen Dörfer und Höfe formulierte: den Kanun, ein Gesetz für die bis dahin weitgehend gesetzlose Bergbevölkerung, auch ein Gesetz für die christliche Minderheit, die sich der muslimischen Mehrheit der Osmanen widersetzte. Der Kanun war ein Stück Gerechtigkeit für Menschen, die nur die Selbstjustiz kannten, und formulierte erstmals Regeln. Im Zentrum des Kanuns steht der Begriff der Ehre. Er steht dort wie ein kalter, steinerner Sockel. Ehrverletzungen können manchmal auch durch Sachleistungen abgegolten, sonst aber nur durch Vermittlung vergeben oder mit Blut abgewaschen werden. Denn ein entehrter Mann ist gemäß des Kanuns ein toter Mann.
Prendas Familie lebte in Dukagjin, einem Dorf in den Bergen, mit nicht mehr als hundert Häusern und Familien, als man sich mit dem Nachbarn um ein Stück Ackerland außerhalb des Dorfes stritt. »Der Boden gehörte mir«, erzählt Prenda, mit dem Foto ihres erstgeborenen Sohnes im Arm. Papiere besitzt niemand in den Bergen, auch ein Grundbuchamt fehlt bis heute. Alles in allem waren es vielleicht 2000 Quadratmeter, um die sich die Nachbarn stritten. Ein schmaler Streifen von einhundert mal zwanzig Metern, dessentwegen bisher schon vier Menschen sterben mussten. Ein Flecken Erde, etwa halb so groß wie ein Fußballfeld.
Vor acht Jahren nahm der Nachbar eine Pistole und erschoss Gerts Vater Kini. Mit fünf Kugeln ins Herz. Der war damals gerade einmal zwanzig Jahre alt. Im Kanun ist streng geregelt, was in diesem Fall hätte geschehen sollen. Kinis Bruder oder irgendein anderer Mann aus der Familie hätte den Mörder erschießen müssen. Doch der – auch er ein junger Mann, nicht älter als sein Opfer – versteckte sich, denn er hatte Angst. Nun geriet die Geschichte außer Kontrolle: Denn der Mörder war verschwunden und Kinis Ehefrau, die mit einer Pistole in der Hand nach ihm suchte, traf auf dem Grundstück nur dessen Vater an. Und so erschoss sie den Vater.
Nach den Regeln des Kanun dürfen die Angehörigen eines Mörders zwar in den ersten vierzig Tagen nach einem Mord getötet werden. Allerdings nicht von einer Frau. Denn Frauen haben so gut wie keine Rechte im Kanun des Leke Dukagjini: »Die Frau ist ein Schlauch, in dem die Ware transportiert wird«, heißt es dort. Träger der Ehre kann nur ein Mann sein, die Ehre der Frau ist ein bloßer Bestandteil der Ehre des Mannes. Für den schmählichen Fall eines Mordes durch Frauenhand sieht der Kanun eine drastische Kompensation vor: zwei Tote.
Prenda kannte den Kanun und sie kannte die Gefahr. Sie flüchtete mit ihren beiden verbliebenen Kindern, ihrem Mann, Gert und der Schwiegertochter hinunter ins Tal. In Shkoder fand sie Zuflucht. Angeblich sind mehr als 500 weitere Familien aus Angst vor drohender Blutrache in den Bergen nach Shkoder geflüchtet. Bürgerrechtsorganisationen in der albanischen Hauptstadt Tirana schätzen, dass im Laufe der vergangenen Jahre die Zahl der Blutracheopfer im nördlichen Bergland weiter gestiegen ist. Die Rede ist von beinahe 10000 Toten seit dem Fall des Kommunismus und etwa 60000 Menschen, die aus Angst vor der Blutrache ihre Häuser und Wohnungen nicht mehr verlassen können. Denn nur innerhalb der eigenen vier Wände ist die Würde eines Menschen in Albanien unantastbar. Deshalb sind die Fenster der Häuser vieler Betroffener so klein wie Schießscharten und die Einsamkeit der Insassen so unendlich groß. In Nordalbanien leben Menschen, die deshalb seit Jahren und manchmal auch Jahrzehnten ihr Haus nicht mehr verlassen haben.
Shkoder liegt nur 35 Kilometer von Prendas Heimatdorf entfernt, mit dem Auto benötigt man für die Strecke dennoch fast drei Stunden. In Shkoder wähnte Prenda ihre Familie sicher. Und tatsächlich: Es passierte nichts. Prenda und der Rest ihrer Familie blieben unbehelligt. Zwei Jahre lang.
Dann nahm der Mörder von Kini Rache für den Tod seines Vaters: In der Straße vor Prendas Haus traf er auf Kinis Geschwister Lula und Gjoni. Es dämmerte, die beiden kehrten gerade von ihrer Arbeit in der Fabrik zurück. Der Mörder schoss Gjoni eine Kugel in die Schulter und zwei ins Herz. Lula wurde mit einer Kugel in der Schulter und einer im Herz gefunden. Es gab keine Zeugen.
Prenda begrub nun die letzten ihrer drei Kinder. Sie zahlte mehr als tausend Euro für einen Grabstein, viel Geld im armen Norden eines ohnehin armen Landes, noch mehr Geld für eine Frau, die vom Sammeln von Blechdosen lebt. Mit der Mutter von Gert zerstritt sie sich. Gert wohnte fortan bei ihr allein. Seine Mutter hat wieder geheiratet, er sieht sie nur selten.
Heute, fast sechs Jahre später, trägt Prenda immer noch schwarze Kleidung. Ein Stück groben Stoffs, den sie zu einem Rock gewickelt hat, und eine kleine schwarze Jacke. Ihre Nachbarin hat sie noch nie mit anderen Kleidungsstücken gesehen. Ihre Strümpfe haben Löcher, ihr Rock starrt vor Dreck, den sie von den Müllhalden an der Straße mitbringt. Jeden Morgen geht Prenda auf den Friedhof zu ihren Kindern, jeden Tag, den ihre Kinder noch nicht gerächt sind, schämt sie sich. Vor den Nachbarn, vor sich selbst, vor ihren toten Kindern. Natürlich war Prenda bei der Beichte. Als der Pfarrer ihre Geschichte hörte, sprach er ein Gebet für sie. »Damit ich vor Schmerzen nicht wahnsinnig werde«, sagt Prenda.
Der Mörder von Prendas Kindern hat sich vor zwei Jahren der Polizei gestellt. Aus Todesangst, wie Prenda glaubt. Im Gefängnis, sagt sie, fühle er sich sicher. Außerdem kann man das Gefängnis in Albanien gegen 8000 Euro Schmiergeld auch jederzeit verlassen. Dass der Täter seine Strafe dort verbüßt, und wäre es für den Rest seines Lebens, reicht Prenda aber nicht. Genauso wenig wie die Zahlung einer Entschädigung für den Tod ihrer Kinder. Ein Angebot durch Gesandte des Mörders hat sie abgelehnt. Und das, ohne sich auch nur einmal nach der Höhe der Summe zu erkundigen.
Prenda hofft auf Hilfe. Irgendeine Organisation, die ihr finanziell unter die Arme greift. Sie braucht doch Unterstützung, um ihren Gert zu erziehen. Um ihm alles beizubringen, was ein Mann können muss.
Ob sie schon eine Pistole hat?
»Nein, aber mit Gottes Hilfe werden wir eine finden, sobald Gert alt genug ist.«
Ob sie nicht Angst um Gert hat?
»Natürlich, aber die Blutrache ist nun mal seine Pflicht. Unsere Familie ist entehrt. Eine Zukunft haben wir nur mit Ehre.«
Ob Prenda glaubt, dass Rache überhaupt ihren Schmerz zu lindern vermag?
»Doch, daran glaube ich fest. Sobald der Mörder tot ist, werde ich Frieden finden und mit meinen Kindern vereint sein.«
Eine Vereinigung im Jenseits?
»Ja, meine Kinder werden mich dort aufnehmen, sofern ihr Tod nur gerächt wird. Selbst, wenn es hundert Jahre dauern sollte.«
So lange wird Prenda nicht warten müssen. Gert wird wachsen. Und er wird älter werden. Noch geht er vormittags in die Schule und nachmittags zum Seilspringen. Aber zwei seiner Freunde trinken schon Bier. Vor ein paar Monaten feierte die Familie Gerts neunten Geburtstag.
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