lawyer hat geschrieben:Aber die Vorstellung, dass der Familienverband sich selbst - vor der staatlichen Macht - rächen muss, ist der Kern des Kanuns und kann auch die Frau ergreifen, gerade wenn sie wie in der Schweiz plötzlich selbst als handelndes Subjekt selbstbewusst erwacht.
interessante Idee - aber auch dafür ist eigentlich im Kanun eine Regelung vorgesehen: Die vereidigten Jungfrauen (wie heissen die auf Deutsch eigentlich korrekt?)
lawyer hat geschrieben:Der Kanun bleibt natürlich ein verabscheuungswürdiges Regelwerk, auch wenn er wohl gleich wie das staatliche Strafrecht die Abschreckung und Begrenzung des Verbrechens bezweckt.
Es ist wohl etwas komplexer, als dass man einfach sagen könnte, das sei nur verabscheuungswürdig. Denn der Kanun ist viel mehr als nur Strafrecht: Der Kodex regelt (beinahe) sämtliche Aspekte von Familienrecht, Eherecht, Erbrecht, Eigentum an Grund und Boden, die Stellung des Kapedan und seiner Familie (also schon eindeutiges Staatsrecht - weiss aber nicht, ob das für alle Kanun-Gesetzgebungen zutrifft oder nur für den Kanuni i Lekë Dukagjinit), Jagdrecht, Schuldrecht, gesellschaftliche Normen wie das ''Gastrecht'' und vieles mehr. Natürlich kann man es verabscheuen, wie minderwertig die Frau im Kanun behandelt wird und wie vehement die Ehre zu verteidigen ist. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass es ein umfassendes Gesetzeswerk ist, das nicht nur für fast alle Aspekte des Lebens eine Lösung bot, sondern auch noch mündlich überliefert worden war. Nur dank des Kanuns war ein Zusammenleben in den albanischen Bergen überhaupt möglich. Denn wie jede Gesellschaft gaben sich auch die Albaner Regeln des Zusammenlebens - detailliert und "gerecht". Natürlich entspricht diese "Gerechtigkeit" nicht mehr unseren neuzeitlichen Vorstellungen, aber das Anwendungsgebiet des Kanuns war ja bis vor sechzig Jahren auch noch in der tiefsten Vorzeit mit sehr strengen Sitten und viel Unabhängigkeit. In einer Gesellschaft ohne Staat braucht es wohl gerade diese drakonische Strafen.
Es ist zu einfach, den Kanun auf die Blutrache zu reduzieren. Man muss vielmehr sehen, dass der Kanun in erster Linie Konflikte verhinderte - durch Regeln des Zusammenlebens und Abschreckung. Wie grausam die Sanktionen sind, ist eigentlich weniger wichtig (und das Talionsprinzip ist ja auch nichts einzigartiges, sondern war weltweit verbreitet: bei den Germanen, im alten Testament und im Hindukusch) - wichtig ist, dass alle die Regeln kannten, die einem erlaubten, von anderen ein gewisses Handeln zu erwarten - im Konfliktsfall wie auch im normalen Alltag - , die alle einigermassen gleich behandeln und die eine Mindestexistenz ermöglichen (geschützt durch die Besa, die so viel von der Rache ausnahm (zB Frauen und Kinder), dass niemand wegen der Blutrache indirekt bedroht wurde).
lawyer hat geschrieben:Anderseits ist die ( mehrheitlich feministisch ausgerichtete) Medienberichterstattung ganz auf Fälle ausgerichtet, in denen Frauen, die sich z.B: einer abgekarteten Heirat widersetzen vom Vater oder einem Bruder hingerichtet werden.
Die von dir erwähnte Medienberichterstattung hat meist nicht die Blutrache als Gegenstand, sondern den Ehrenmord. Unter Ehrenmord wird allgemein der Mord zur Wiederherstellung der Ehre an (vermeintlichen) Sexualstraftäterinnen, Ehebrecherinnen und dergleichen verstanden. Insofern kann eine kritische Medienberichterstattung zu Ehrenmorden gar nicht nicht-feministisch sein. Es sind meist nur "wir Albanologen", die unter Ehemord allgemein jegliche Blutrachetat antipizieren.