71 Kilometer Sehnsucht
Von Anton Holzer (Spectrum) 20.05.2006
Der Strand von Durrës ist endlos lang, feiner Sand, ein Hotel nach dem anderen. Wie Rimini. Vom Meer aus gesehen. Wenn man sich von der Straße her nähert, versinkt man im Dreck. Albanien zwischen Boom und Elend: ein Lokalaugenschein.
Es sind nur wenige Länder in Eu ropa, für die es keinen deutsch sprachigen Reiseführer gibt. Ne ben der Republik Moldau gehört auch Albanien dazu. Wir wissen zwar, wo das kleine Land liegt, dass hier einmal Enver Hoxha regierte, wir haben die Bilder der Flüchtlingsschiffe aus den Neunzigerjahren in Erinnerung. Aber sonst? Ja natürlich, die Blutrache. Also Vorsicht! Und was noch? Wussten Sie etwa, dass Mutter Teresa aus Albanien stammte, mit bürgerlichem Namen Agnes Gonxhe Bojaxhiu hieß und dass der Flughafen der Hauptstadt Tirana nach ihr benannt ist? Wer einmal auf dem Mutter-Teresa-Flughafen gelandet ist, wird sich das merken. Wir aber hatten nicht vor, uns dem Land aus der Luft zu nähern, wir waren im Auto unterwegs.
"Das Meer ist still, die Wolken hängen festgenagelt am Himmel wie Bilder an der Wand, auf dem Wasser schwimmt ein Geisterboot ohne Schwanken an einem unsichtbaren Seil dem Schiff entgegen, um mich abzuholen." So beginnt Joseph Roth seine Reportage "Einzug in Albanien", die am 11. Juni 1927 in der "Frankfurter Zeitung" erschien. "Es sind nur zwei an Bord, die nach Albanien gehen: ein Mann, der im Lande der Bärte Gilette-Apparate verkaufen will, und ich."
Ende Mai war Roth in der albanischen Hafenstadt Durrës von Bord gegangen. Sein erstes Ziel war Tirana. "In einer undurchsichtigen Wolke aus Staub, im Donner platzender Pneumatiks, empor- und zurückgeschleudert von echten Fordspiralen, fahre ich die Landstraße entlang, Tirana entgegen. Sooft ein Pneumatik ausgewechselt werden muss, steige ich aus, sehe zu, wie der Staub sich verzieht, wie die Kulissen der Landschaft sichtbar werden, Berge aus einem gespenstischen Violett, Wiesen aus doppelt übermaltem Grün, ein Himmel aus stabilem Blau, ein Himmel aus Stoff, ein Himmel ohne Fältchen, sauber gespannt, eine gebügelte Wölbung."
Als wir knapp 80 Jahre danach auf ebendieser Straße unterwegs sind, tragen uns unsere Volkswagenspiralen bequem dahin. Vorerst zumindest. Aus der löchrigen Staubpiste ist längst eine moderne Schnellstraße geworden. Zu beiden Seiten schießen drei-, vier-, fünfstöckige Bauten empor, viele davon als unfertige Skelette, die, so scheint es, mit einem Mal in ihrem Wuchs unterbrochen worden sind. Hier, auf dieser Ausfallstraße Tiranas, passiert es: Der Motor wird heiß, das Kühlerwasser kocht. Mit letzter Kraft rollen wir vor eine der zahlreichen Mechanikerwerkstätten, die die Straßen rund um Tirana säumen. Was folgt, ist ein Lehrbeispiel des peripheren Kapitalismus, ein Wunder der Improvisation. Ein Mann von erheblicher Leibesfülle - der Chef, wie sich herausstellt - nimmt die Sache sofort in die Hand. Die Diagnose ist schnell erstellt: Kühlventilator kaputt. Mit ein paar Brocken Deutsch, die er, wie er sagt, beim Handeln mit deutschen Autos in München aufgeschnappt hat, deutet er an, was zu tun sei: Ersatzteile anfordern.
Ich erschrecke und sehe uns schon tagelang auf die rettenden Teile warten. Der Chef greift zum Mobiltelefon. Fünf Minuten später erscheint sein Freund, ebenfalls aus dem Auto-Business. Er deutet uns, ihm zu folgen. Hinter seinem blitzenden Mercedes neuesten Baujahrs biegen wir nach ein paar Minuten in einen kleinen Hinterhof ein. Die Werkstätte besteht aus einem Schuppen und langen, hohen Regalen. Hier türmen sich die Autoabfälle Europas. Hunderte von Motorblöcken und Lichtmaschinen, Benzinpumpen und Batterien, Stoßdämpfer und Auspuffrohre. Alte, ausgeweidete Autos, fein säuberlich zerlegt, ein riesiges Ersatzteillager aller gängigen Marken: Mercedes und Volkswagen, Peugeot und Renault, Fiat und Opel. Drei junge Autoschlächter hocken auf alten Autositzen und spielen Schach. Als der Chef um die Ecke biegt, springen sie auf. Ein paar kurze Befehle, Ersatzteile werden herbeigeschafft, und dann geht's los. Nach einer halben Stunde signalisiert uns der Chef: Auto okay. Seine saubere, weiße Hand lässt das Honorar in die Tasche gleiten; dass seine drei Burschen ein Trinkgeld erhalten, sieht er nicht gern.
Der periphere Kapitalismus lebt von den Abfällen des Zentrums, er verwandelt diese wieder zu Geld. Albanien ist ein Musterbeispiel für diese Zirkulation des Veralteten. Nehmen wir ein Beispiel: Ein Auto, das in Wien ausgemustert wird, wird so lange nach Osten oder Südosten verschoben, bis sich die Reparatur lohnt. In Albanien, wo die Arbeitskraft billig ist und die Löhne niedrig sind, lohnt sie sich auf jeden Fall. An den Rändern des reichen Europa wird repariert, gebastelt, improvisiert. Nichts Altes ist alt genug, um nicht noch einmal in den Kreislauf der Verwertung eingeführt zu werden.
Autos sind in Albanien Prestigestücke, denn hier begann das Autozeitalter erst 1990, mit dem Ende des Kommunismus. Bis zu dieser Zeit gab es kaum private Autos im Land. Die Motorisierung wurde innerhalb von 15 Jahren im Eiltempo nachgeholt. Das Rennen der Marken gewann Mercedes. Und so ist, erstaunlich genug, Albanien inzwischen das Land mit dem höchsten Mercedes-Anteil Europas geworden. Die deutschen Motoren schienen den Albanern am besten für die gebirgigen Straßen geeignet. Ins Land geholt wurden vor allem billige, alte, im "modernen" Europa längst ausrangierte Modelle, aber viele der Neureichen leisten sich auch teure Neuwagen. Ob Gebraucht- oder Neuwagen, das Auto ist - neben der pompösen Wohnungseinrichtung - "das" albanische Statussymbol. Wer etwas auf sich hält, lässt es alle paar Tage waschen. Längst hat der Autowäscher den Schuhputzer am Straßenrand abgelöst. Der Waschmann braucht nicht viel für sein Gewerbe: einen kleinen Platz am Straßenrand, Wasser, Druckluft, Seife, Lappen und hie und da einen Gehilfen.
Wenn man auf Albaniens Straßen unterwegs ist, meint man oft, in der deutschen Provinz zu sein. Denn die meisten LKWs kommen aus Deutschland und sind mehr als 25 Jahre alt. In den Werbebeschriftungen scheint die Zeit zurückgedreht: "Fleisch und Wurst vom Feinsten - Fleischerei Müller, Reutlingen" heißt es da oder "Gärten, von denen Sie träumen. Rudolf Kaminski, Offenbach", alles im Design der Achtzigerjahre.
Der Strand von Durrës ist endlos lang, feiner Sand, ein Hotel nach dem anderen. Wie Rimini, nur seitenverkehrt. Dort hat man, wenn man nach Süden blickt, die Adria linker Hand, hier hat man sie rechter Hand. Doch der Strand von Durrës sieht nur vom Meer aus wie Rimini. Wenn man sich von der Straße her der endlos langen Hotelzeile nähert, versinkt man im Dreck. Keine asphaltierten Zufahrten, keine Gehsteige, keine Beleuchtung und vor allem: Müll, soweit das Auge reicht. Der Strand von Durrës ist ein Vexierbild des Landes. Boom und wilder protokapitalistischer Aufbruch auf der einen, Elend auf der anderen Seite. Je nachdem, von welcher Seite man sich nähert, blickt man ins reiche Europa oder in einen der ärmsten Hinterhöfe des Balkans.
"In ganz Albanien sind beträchtliche Mengen an Waffen und Munition im Umlauf. Immer wieder geschehen Morde in Lokalen und Gaststätten in sogenannter ,Mafia-Manier', bei denen durchaus auch Unbeteiligte zu Schaden kommen." Das österreichische Außenministerium rät bei Reisen im Land zu Vorsicht. Als Unbeteiligter zu Schaden kommen könne man aber nicht nur durch Waffen und Munition. "Albanien", heißt es in der Warnung weiter, "liegt in einer seismisch aktiven Zone, Erdbeben kommen immer wieder vor."
Allein im Auto? Riskant, riskant, meinte auch ein Freund, als ich ihm von der geplanten Fahrt erzählte. Er wolle mir nicht Angst machen, aber vor vier Jahren habe er auf dem schwarzen Brett der Universität eine Vermisstenanzeige gelesen. Vier Studenten seien nach Albanien gereist und nicht mehr zurückgekehrt.
Als Joseph Roth im Frühsommer 1927 nach Albanien aufbrach, hatte er wohl ganz ähnliche Bilder und Befürchtungen im Reisegepäck. "Albanien ist schön, unglücklich und trotz seiner Aktualität langweilig." Das Land erschien ihm archaisch: "Man fühlt deutlich, dass es keine Eisenbahnen gibt, uns in das Jahrhundert zu führen, das unsere Heimat ist." Aber ihm war auch bewusst, wie sehr diese Bilder von außen kommen. Das archaische, wilde Albanien, das am Rande Europas steht, das ist zu einem Gutteil unsere Projektion. "Von Berlin aus betrachtet", resümierte er, "ist Blutrache interessanter." Diese "Exotik lastet doppelt grausam" auf dem Land.
Die Provinzstadt Korça liegt im Südosten des Landes. Bis zur griechischen und mazedonischen Grenze ist es ungefähr gleich weit; nämlich nur wenige Dutzend Kilometer. Wir kamen am frühen Abend in Korça an. Kaum hatten wir unser Auto abgestellt, stellte sich uns ein junger Mann in den Weg. Woher wir kämen, wohin wir reisten? Er selber stellte sich als weit gereister Mann vor. In der Bar nebenan, wohin er uns gelotst hatte, bestellte er eine Runde. In Deutschland, erzählte er, war er schon einmal, in Österreich sei er durchgefahren, in einem Berggasthof in den Dolomiten habe er in der Küche gearbeitet und in Jesolo als Pizzakoch. Italien sei wunderbar. Da könne man viel Geld verdienen. Neuerlich bestellte er eine Runde. Sein Freund, der fremden Sprachen weniger mächtig, nickte beifällig. Auch für ihn lag das Paradies auf der anderen Seite der Adria. Er hatte als Maurer im oberitalienischen Bergamo gearbeitet. Jetzt sei er, und er lachte dabei, auf Urlaub. Bald kehre er wieder zurück, um viel Geld zu verdienen. Im Hotel am Hauptplatz wurden wir von einer jungen Rezeptionistin empfangen. Auch sie sprach in bestem Italienisch nur Gutes vom Traumland Italien, vom Land, das sie nur aus dem Fernsehen kennt und dessen Sprache sie ebenfalls übers Fernsehen gelernt habe.
Mir geht diese Traumwelt der jungen Albaner immer wieder durch den Kopf. Eigenartig: In den albanischen Träumen liegt Europa direkt vor der Haustür, nämlich auf der anderen Seite des Meeres, das an der schmalsten Stelle nur 71 Kilometer breit ist. Von der anderen Seite betrachtet, sind diese 71 Kilometer aber eine Unendlichkeit. Albanien liegt für Europa am Ende der Welt.