Brief an den Vater
Kosovo feiert die Unabhängigkeit. Der Journalist und Politiker Veton Surroi erinnert sich an den langen Weg dorthin.
Nachdem die Unabhängigkeit Kosovos ausgerufen worden war, mischte ich mich unter die Menge auf der Mutter-Teresa-Strasse. Als ich sie entlangging, musste ich an drei Augenblicke in meinem Leben denken.
Der erste war, als du, Vater, meine Schwester Flaka und ich an einem Silvesterabend in den 60ern auf dieser Strasse standen, die damals den Namen von Marschall Tito trug, damit wir Kinder uns das Feuerwerk aus der Nähe anschauen konnten, das Soldaten der Volksarmee Jugoslawiens im Stadion abbrannten.
Der zweite Moment war, als ich mit meinen Klassenkameraden auf dem Heimweg von der Grundschule sah, wie auf dem Platz vor dem damaligen Hotel Bozhur ein paar Leute auf einen weiss-roten Omnibus der Linie «Kosovatrans» stiegen, um eine Demonstration anzuführen. Das war im Jahr 1968. Die Menschen riefen «Kosovo Republik!», und als wir kamen, begann eben der Polizeieinsatz. Ein erfahrener Journalist brachte mich und meine Schulkameraden in einem Nebensträsschen vor den Polizeiknüppeln und der aufgeregten Menge in Sicherheit.
Der dritte Augenblick war, als sich Tausende Bürger von Pristina in einer von meinen Freunden und mir initiierten Aktion mitten am Tag für eine halbe Stunde mit brennenden Kerzen und schweigend auf der Strasse versammelten, um gegen den von Slobodan Milosevic über Kosovo verhängten Ausnahmezustand zu protestieren und der albanischen Opfer seiner Herrschaft zu gedenken.
Die erste Erinnerung, der unbeschwerte Spaziergang, verbindet sich für mich mit dem Duft gerösteter Marroni und der Wärme deiner Hand, in der meine Kinderhand lag, die dritte Erinnerung hingegen mit dem Geruch von Tränengas, denn inzwischen wurde jede Versammlung von Albanern mit Gummiknüppeln und Tränengas aufgelöst.
Die Erde war gefroren, als wir dich begruben. Ich nahm eine Hand voll, als dein Sarg hinabgelassen worden war, und zerdrückte sie, damit der Brocken nicht dröhnend auf den Deckel fiel. Ich erinnere mich an den Geruch des Winters.
Wir hatten dich zum Neujahrsfest aus Spanien zurückerwartet. Ich freute mich darauf, die im Sommer begonnenen Gespräche fortsetzen zu können, die wir gerade deshalb genossen hatten, weil sie unter Gleichberechtigten geführt worden waren. Als ich dich in der Leichenhalle des Krankenhauses sah, den an einem Betonpfeiler halb zerschmetterten Kopf noch blutig, überfiel mich ein Gefühl der Machtlosigkeit. Du, der für mich stets ein Vorbild an Gerechtigkeit, Güte, Reife und der Lebenslust gewesen warst, hattest ein gewaltsames Ende genommen. Ich war in der Überzeugung oder Illusion aufgewachsen, dass Gewalt stets von Gewalt angezogen werde, ihr Menschen wie du also niemals zum Opfer fallen könnten. In der Leichenhalle des Krankenhauses von Guadalajara in Spanien begriff ich, dass für uns andere Gesetze galten.
Ich weiss, dass du bestimmte Dinge vorausahntest. Dein Gesicht legte sich in Falten, wenn du von Unruhen in Kosovo hörtest, denn du wusstest, dass Serbien mit äusserster Härte reagieren würde. Und ich weiss, dass Spanien für dich Befreiung bedeutete. Wir hatten uns lange über die jüngere Geschichte dieses Landes unterhalten, das Ende der Diktatur, den Übergang zum Vielparteienstaat, den Anschluss an Europa. In deinen Augen leuchtete Begeisterung, wenn du von unserer europäischen Zukunft und einem mit den anderen Republiken gleichberechtigten Kosovo sprachst.
Als wir dich begruben, schwor ich mir, für die Veränderung der Dinge einzutreten, auch wenn ich noch nicht wusste, wie. Aber immer, wenn ich dein Grab besuchte, wusste ich etwas zu berichten, denn jedes dieser zwanzig Jahre hatte dramatisches Ereignisse für das Land und mich gebracht.
Rea, deine Enkelin, war zwei Monate alt, als du sie in dem einzigartigen, unvergesslichen Sommer des Jahres 1988 auf den Arm nahmst. – Im November vergangenen Jahres ist sie zum ersten Mal wählen gegangen. Ich begleitete sie zum Wahllokal in ihrer ehemaligen Grundschule. Als sie eingeschult wurde, begann sich die Lage in Kosovo zunehmend zu verschärfen. Das Schulgebäude, in dem sie lernte, wurde in zwei Hälften geteilt, eine für die serbischen Schüler, die andere für die albanischen. Der serbische Teil war im Winter beheizt, während man im albanischen Teil der Schule, wie mir die sechsjährige Rea berichtete, mitten in den Unterrichtsstunden Gymnastik trieb, damit den Kindern etwas wärmer wurde.
Einmal, sie war damals sechs Monate alt gewesen, hatten wir uns zufällig in der Stadt befunden, als die Polizei mit Gummiknüppeln und Tränengas eine Demonstration auflöste. Ich wickelte meinen Mantel um sie, bis ich eine sichere Stelle gefunden hatte. Sie bekam von dem Gas nichts ab, während mir die ganze Zeit Tränen übers Gesicht liefen.
Das war das letzte Mal gewesen, dass ich geweint hatte – bis zu den Wahlen im November vergangenen Jahres. Als ich mit meiner Tochter das Schulgebäude betrat, füllten sich meine Augen mit Tränen. Rea hatte nun das Alter erreicht, in dem sie über die Freiheit Kosovos mitentscheiden durfte, und das an einem Ort, an dem sie als Schülerin Diskriminierung erfahren und ausgehalten hatte wie wir alle.
Leider konnte keiner der Freunde, mit denen zusammen ich im Jahr 1990 eine neue, freie Zukunft entworfen hatte, die Unabhängigkeitserklärung noch unterzeichnen. Im Haus des ermordeten Fehmi Agani taten wir einen gedanklichen Schritt, der unserer Generation bis dahin unvorstellbar erschienen war. Deine und deiner Generation Vision, Vater, war die Staatlichkeit Kosovos innerhalb Jugoslawiens, mit allen Gefahren und Hindernissen, die dies in sich schloss. Ich hatte das Glück und die Verpflichtung, unter den Bedingungen eines sich auflösenden Jugoslawien, eine neue Vision mitzuentwickeln. Unter der Polizei- und Militärherrschaft in unserem besetzten Land trug ich bei zum Bau der Vision eines unabhängigen Kosovos.
Ich denke, du hättest Grund, stolz auf mich zu sein: Ich habe dieses Land mit Würde und Liebe repräsentiert, und ich habe mit ganzer Kraft für es gekämpft. Ich habe fortgeführt, was du als Begründer der albanischsprachigen Presse begonnen hattest, indem ich mich an der Begründung der freien Presse in albanischer Sprache beteiligte.
Als ich im Parlament Kosovos zum ersten Mal ans Rednerpult trat, musste ich an die Worte denken, mit denen du an gleicher Stelle die Gründung der Universität von Pristina mit den Worten bekannt gabst: Die albanische Sprache sei fortan nicht mehr die Sprache der Forstarbeiter, sondern die Sprache der Wissenschaft und der Kunst. Ich versuchte, diesen Gedanken fortzuführen, indem ich sagte, unser Land gehöre zu Europa; diese Zugehörigkeit müsse dem weiteren Aufbau zu Grunde liegen, und die Unabhängigkeit sei ein notwendiges Instrument zur Festigung der europäischen Identität Kosovos.
Am Sonntag waren wir alle auf der Strasse, um die Unabhängigkeit zu feiern. Unser Land ist arm.
Es herrscht nicht das Gesetz, sondern in hohem Masse die Willkür. Auf der Welt geniessen wir keinen sehr guten Ruf. Wir haben noch immer mit Problemen zu kämpfen, die schon vor einem halben Jahrhundert gelöst schienen, nämlich der mangelhaften Strom- und Wasserversorgung. Mein Anliegen ist der Aufbau einer demokratischen, solidarischen Gesellschaft. Beide Elemente sind immer noch täglich in Gefahr. Aber nach fast hundertjährigen Bemühungen um die Quadratur des Kreises ist es uns nun zum ersten Mal in unserer Geschichte möglich, ohne die Angst vor der brutalen Einwirkung unseres Nachbarn den inneren Aufbau in Angriff zu nehmen. Meine Generation ist nun dabei, einen historischen Fehler zu korrigieren, der unser Land in einen Leerraum zwischen Osmanischem Reich und Selbstbestimmung stellte. Dein Kosovo, Vater, das Land, das innerhalb Jugoslawiens Gleichberechtigung geniessen sollte, wird nun mein unabhängiges Kosovo.
Wir waren am Sonntag auf der Strasse, ich und deine lächelnde Seele, Rexhai Surroi, und erfreuten uns dieses historischen Tages.
Aus dem Albanischen von Jakob Rath.
Veton Surroi, Jahrgang 1961, ist ein kosovarischer Journalist und Politiker. Er gründete die Reformpartei ORA und war Mitglied des Kosovarischen Parlaments. Sein Vater, Rexhai Surroi, war Botschafter Jugoslawiens, u.a. in Spanien, wo er 1988 bei einem Autounfall starb.
http://www.tagesanzeiger.ch/dyn/news/varia/846168.html